Beispiel Mediengeschichte als zyklische Wiederholung
   

Gehen wir vom Reproduktionsparameter aus, so erscheint der Rückblick auf die Gutenberg-Galaxie als ein Schlüssel zum Verständnis des Entwicklungsgangs der Informationsgesellschaft. Wir vergleichen die Einführung der neuen Medien mit der Ausbreitung des Buchdrucks und/oder der Technisierung der individuellen Informationsverarbeitung durch die Schrift in Verbindung mit der Schaffung von rückkopplungsarmen Massenkommunikationsschauplätzen in der Antike. Wir beschreiben die Strukturen und Dynamiken der Vernetzung und Informationsverarbeitung in den verschiedenen Epochen und suchen nach Parallelen zwischen den Systemen und Reproduktionszyklen. Dieses Programm habe ich im "Buchdruck in der frühen Neuzeit" und auch in der CD-ROM zum Buch "Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft" vielfach zur Leitschnur gemacht. Dabei sind in der Tat erstaunliche Parallelen ans Licht gekommen.

Da ist zunächst die Begeisterung, mit der die technischen Erfindungen nach einer gewissen Anlaufzeit von der Bevölkerung aufgenommen wurden. Beide hat man als Wunschmaschinen gefeiert und kulturell prämiert.

Der Vergleich zwischen der Genese der Gutenberg-Galaxie und der Informationsgesellschaft wird durch die Ähnlichkeit des Eingangsdatums erleichtert: 1440 gilt als die Geburtsstunde der Kombination von Handgießinstrument und Druckerpresse. In den 40er Jahren unseres Jahrhunderts arbeiteten die ersten Elektronenrechner in Deutschland (1941/43 K. Zuses Z 1 bzw. die Z 3) und in Amerika (1943 Colossusrechner, 1944 Mark 1). Blickt man auf den Buchdruck zurück, kann man sagen, dass die technische Innovation auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung 1468 mit dem Tode Gutenbergs im wesentlichen abgeschlossen war. In ähnlicher Weise sind wohl auch die Prinzipien der elektrotechnischen Datenverarbeitung relativ rasch geklärt gewesen. Die Ideen zu Transistoren und elektromagnetischen Speichermedien gibt es schon länger. In beiden Fällen hat es bald 50 Jahre gebraucht, bis die neuen Technologien zu Produkten gefunden haben, die auf das Interesse von größeren Teilen der Bevölkerung gestoßen sind. Volkssprachliche Texte für den 'gemeinen Mann' tauchen zwar schon in den 70er Jahren auf, vergleichbar etwa Bushnells Computerspiel 1972 oder dem PC von Xerox 1977, aber erst nach der Krise der 90er Jahre beginnt man mit ihrer massenhaften Produktion. Und ähnlich setzt sich auch der Heimcomputer erst in den 90er Jahren durch und wird neben einem professionellen Arbeitsgerät zu einem Medium der Freizeitgestaltung.

Die konsequente Nutzung des Marktes, also der neuen typographischen Vernetzungsform, setzte eine Ausbreitung der Druckereien und die Massenproduktion von Druckwerken voraus. Sie kam in der frühen Neuzeit erst langsam in Gang, aber um die Wende des 16. Jahrhunderts hatten sich Drucker und Leser an die marktwirtschaftliche Vernetzung gewöhnt. Hier drängt sich natürlich der Vergleich mit dem Internet auf, das auch praktisch zwei Generationen nach dem Bau der ersten Prototypen der Rechner zu einem allgemein genutzten Vernetzungsmedium geworden ist.

Bis sich der Daten- und Urheberschutz durchgesetzt hatte, dauerte es in Deutschland nach den politischen Rahmenbedingungen in den Kleinstaaten bis deutlich nach der Jahrhundertwende. Die entsprechenden juristischen Regelungen für die elektronischen Medien stehen in unserer Gegenwart noch weitgehend aus. Dass man die Gesellschaft – und nicht deren Segmente und Schichten – als Bezugsrahmen für die Sinnstiftung kultureller Kommunikation erkannte, war ebenfalls ein langwieriger Prozess, der aber in Deutschland in den 20er und 30er Jahren des 16. Jahrhunderts abgeschlossen war. Man kann feststellen, dass Ideologien, die die neuen Internet-Vernetzungsformen legitimieren, heute noch weitgehend ausstehen, jedenfalls bislang sind es nur die Subkulturen der Generationen, die etwa nach 1980 geboren sind, die sich vom Prinzip des Urheberrechts und des Tauschs von Informationsware gegen Geld lösen.

Wenn sich die Entwicklung von Erkenntnis- und Darstellungstheorien, die den Möglichkeiten der neuen Informations- und Verbreitungstechniken angemessen sind, in unserer Gegenwart genauso langsam vollzieht wie in der frühen Neuzeit, dann werden wir noch ca. 25 Jahre warten müssen. Albrecht Dürers Reflexionen der Wahrnehmungstheorie, seine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer gesellschaftlichen Informationsverarbeitung, erschienen 1525 (Underweysung der Messung) bzw. 1528 ( 4 Bücher von menschliche Proportion). Seine Werke markieren natürlich nur den Anfang der langwierigen Theorie- und Programmentwicklung (dazu später mehr). Sieht man einmal von ganz wenigen Ausnahmen ab, dann sind erst die 30er Jahre des 16. Jahrhunderts die Zeit, in der auf breiter Front Informationen in einer solchen Form gewonnen und im typographischen Medium dargestellt werden, dass sie bis in unsere Zeit als nützliche und wahre Bestandteile der Buchkultur gelten. Ein wichtiger erster Markstein war hier, dass das "Herbarum vivae eicones" des Hironimus Brunfels 1530 in lateinischer Sprache und dann 1532 als "Kontrafein Kräuterbuch" auch in deutscher Sprache erschien. Bekanntlich nutzte es noch Linné zur Pflanzenbestimmung. Die Wiederholungen sind auch auf diesem Gebiet bei der Durchsetzung der elektronischen Medien evident. Noch immer können die meisten Informationen, die im Internet kursieren, genauso gut auch ausgedruckt werden. Sie verlieren kaum an Klarheit, wenn sie in typographischer Form vorliegen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die neuen Medien haben eine ihnen angemessene spezifische Form noch nicht gefunden.

Das war um die Mitte des 16. Jahrhunderts anders. Hier hatte sich der typographische Speicher mit Informationen gefüllt, die - wie vor allem die Fachliteratur - für dieses Medium typisch sind und für die es in der handschriftlichen Kultur keine Parallelen gibt. Man kann also sagen, dass erst nach mehr als 100 Jahren die chaotische Umbruchphase, in der die Buch- und Industriekultur entstand, zu Ende ging. Danach kann sich das Unternehmen 'Buchkultur' differenzieren, konsolidieren und ausbreiten. Bis ins 19. Jahrhundert sind weder in technischer, kommunikativer, sprachlicher, erkenntnistheoretischer noch in anderen wichtigen Hinsichten prinzipielle Neuerungen erforderlich. Das typographische System schöpft seine Potentiale aus. Von einer solchen Konsolidierungsphase für die Informationsgesellschaft wären wir, wenn man von einem gleichen Entwicklungszyklus ausgeht, noch etwa 50 Jahre entfernt.

 
Fliesstext: Reproduktionsmodelle