Fließtext Theorie:  Individuelle und soziale Selbstwahrnehmung und -reflexion
 
Selbstwahrnehmung
Wir unterscheiden
individuelle Selbstwahrnehmung,
soziale Selbstwahrnehmung,
individuelle Selbstreflexion und
soziale Selbstreflexion.
Alle diese Formen der Selbsterfahrung sollen als Sonderfälle von Informationen betrachtet werden.
Selbstwahrnehmung ist ein Oberbegriff für verschiedene Formen der Informationsverarbeitung über Menschen und soziale Systeme durch dieselben. Alle Informations- und Kommunikationssysteme beobachten nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst. Bei Menschen geschieht dies zumeist unbewusst und nebenbei. Ein Ergebnis der Selbstwahrnehmung sind (latente) Selbstbeschreibungen. Diese Beschreibungen und die Mechanismen, nach denen sie zustande gekommen sind, können bei komplexen psychischen und sozialen Systemen nochmals wahrgenommen werden. Solche Metaprozesse: Wahrnehmung der Wahrnehmung, Beschreibung der Beschreibung werden häufig als (Selbst-)Reflexion bezeichnet. Ziel der Reflexion kann die Ermittlung von Glaubenssätzen, Wahrnehmungsroutinen, individuellen Normalformen der Informationsverarbeitung usf. sein. Über die Reflexion gelangt man auch zu Identitätskonzepten von Individuen und Gemeinschaften.
Selbsterfahrung i. d. S. steht also in Opposition sowohl zur Umweltbeobachtung und -beschreibung als auch zur (Selbst-)Reflexion. Zusammenfassung: Abb. 1:  Selbsterfahrung   Zusammenfassung: Abb. 2:  Ziele der individuellen Selbstreflexion

  Gruppen
Soziale Selbsterfahrung und Selbstreflexion
Alle sozialen Gruppen, Institutionen und Gemeinschaften vergleichen die aus ihrer Umwelt aufgenommenen Informationen mit den eigenen Programmen (Erwartungen, Vorerfahrungen, Routinen usf.). Sie können als kybernetische Systeme auf eine beständig mitlaufende Selbstwahrnehmung und auf korrigierende Interventionen nicht verzichten. Sobald eingehende Informationen über die Umwelt mit den individuellen Sollwerten in Konflikt geraten, entsteht Handlungs- und/oder Selbstreflexionsbedarf. Ziel der Selbstreflexion ist zunächst die Klärung und dann ggf. die Änderung der handlungsleitenden und orientierungsrelevanten Normen des Systems. Sie hat also das Ziel, die Selbstregulationsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern oder wieder herzustellen.
Soziale Selbsterfahrung und Selbstreflexion ist also die Bezeichnung der Selbsterfahrung, bzw. Selbstreflexion von sozialen Systemen: Zweiergespräche, Gruppen, Familien, Teams, Institutionen u. a. Gemeint ist nicht die individuelle Reflexion sozialen Geschehens durch eine einzelne Person - das wäre Umwelterkundung eines psychischen Systems -, sondern die Beobachtung bzw. Reflexion der Prozesse, Strukturen, Selbstbilder und Umweltbeziehungen eines sozialen Systems durch eben dieses System.
Natürlich treten die einzelnen Menschen als Sensoren, Prozessoren, Reflektoren, Speicher und Effektoren des sozialen Informationssystems auf. Insofern ist die individuelle Selbstwahrnehmung und -reflexion zumindest einiger Mitglieder des Sozialsystems Voraussetzung einer Gruppen-, Familien-, Team- etc. -reflexion. Aber die Programme und Leitbilder des sozialen Systems decken sich keineswegs immer mit den Vorstellungen, die die beteiligten Individuen von ihnen haben. Nur diejenigen Wahrnehmungen, die von den anderen Mitgliedern aufgegriffen und zur Lösung der Systemaufgaben genutzt werden, sind soziale Wahrnehmungen. Dazu müssen sie irgendwie ausgedrückt, den anderen zugänglich gemacht werden. Dies setzt verbale oder nonverbale Kommunikation voraus. In diesen Gesprächen entwickelt sich eine Eigendynamik, die es verbietet, die soziale Informationsverarbeitung mit der intrapsychischen gleichzusetzen. Welche Wahrnehmungen sozial ratifiziert, welche Informationen gespeichert und im sozialen Handeln genutzt werden, dies zu bestimmen, liegt nicht in der Hand einer einzelnen Person.
Normalerweise thematisieren soziale Systeme ihre Prozesse und Strukturen nur dann, wenn in der Zusammenarbeit Krisen auftauchen. Ansonsten orientieren sie ihre Aufmerksamkeit auf die Umwelt und die Aufgaben, zu deren Bewältigung sie entstanden sind. Die Selbstbilder und die Erwartungen über die normalen Arbeitsabläufe entwickeln sich nebenbei, und sie bleiben latent. Soziale Selbstreflexion setzt ein, wenn diese latenten Erwartungen selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung und Reflexion des betreffenden Systems gemacht werden. Dies setzt Wahrnehmung der Wahrnehmung, Kommunikation über Kommunikation, Reflexion von Informationsverarbeitungsprozessen, Verbalisieren von nonverbalen Äußerungen und andere reflexive Prozesse voraus. Während dieser Selbstthematisierungsphase ist der normale Arbeitsablauf in dem betreffenden Sozialsystem unterbrochen.
Ziel der Selbstthematisierung in Beratungsprozessen ist es immer, die Selbstregulationsfähigkeit des (psychischen oder sozialen) Systems zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen, indem die Gemeinsamkeiten, d. h. die konstitutiven Prozesse und Strukturen des Klientensystems bewusst gemacht und gegenüber störenden Umwelteinflüssen abgegrenzt werden. Die Normen, nach denen die Beziehungen zwischen den Rollen gestaltet werden, die Programme, nach denen Informationen gesammelt und bewertet, und die Muster, nach denen miteinander kooperiert wird, machen die Identität von sozialen Systemen aus. Und diese Konzepte sind der Gegenstand sozialer Selbstreflexion sozialer Systeme. (Daneben können natürlich auch Identitätskonzepte von Individuen Gegenstand sozialer Selbstreflexion sein. Dies geschieht beispielsweise in Gruppentherapien und mit charakteristischen Beschränkungen auch in Supervisionen.) Zusammenfassung: Abb. 3:  Soziale Selbstreflexion in der Beratung
Die Programme Selbstwahrnehmung und -thematisierung werden im Alltag in Krisensituationen in der Regel erst dann eingesetzt, wenn direktiven Methoden wie die Wissensvermittlung und der Hinweis auf Krisen nichts fruchten. Explizite soziale Selbstwahrnehmung und -reflexion haben Voraussetzungen und brauchen ein besonderes Setting.
Dieses Setting kann im Rahmen von professionellen Beratungen oder von Trainings hergestellt werden.
Die soziale Selbstreflexion in der Beratung erfolgt nach einem allgemeinen Ablaufschema, welches die folgende Abbildung zusammenfasst. Zusammenfassung: Abb. 4:  Allgemeines Ablaufschema sozialer Selbstreflexion sozialer Systeme

 

 

 

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