![]() |
Die fünf Idealisierungen von Alfred Schütz |
"Zunächst sollen die grundlegenden Axiome von A. Schütz, die sogenannten
'Sozialitätsidealisierungen', etwas ausführlicher dargestellt werden. In jeder Interaktion, in der wir es ja mit mindestens 2 Beteiligten zu tun haben, sind mindestens 2 Standpunkte und 2 Perspektiven auf die Umwelt miteinander zu vermitteln - bei Gruppen entsprechend mehr -, wenn es tatsächlich zu einem abgestimmten Handeln und zu kommunikativer Verständigung kommen soll. Dabei sind die beiden Standpunkte der Interaktionspartner im Grunde unvereinbar, die eigene Perspektive ist dem jeweiligen Gegenüber notwendig 'uneinsehbar' und umgekehrt. Die Teilnehmer in Supervisionsgruppen beispielsweise kommen zumeist von unterschiedlichen Arbeitsplätzen, besitzen ihre je eigentümliche Biographie, sehen die Probleme, die in der Gruppe bearbeitet werden, aus unterschiedlichen Gesichtswinkeln und können zudem selten sicher sein, was das andere Gruppenmitglied gerade für relevant hält. Auch was den Fortgang der Interaktion angeht, so können beide Beteiligte zwar bestimmte Intentionen verfolgen, was bei ihrem Tun am Ende herauskommt, können sie nicht sicher wissen. Der Fortgang der Interaktion ist für sie uneinsehbar. Schließlich sind auch die Werkzeuge, deren sie sich in der Interaktion bedienen, ausgesprochen vage. Das sprachliche Symbolsystem beispielsweise läßt viele Deutungen zu, und man kann nicht sicher sein, welche Deutung vom jeweiligen Gegenüber bevorzugt wird. Wie ist die Herstellung von Reziprozität dennoch möglich? Die Antwort, die A. Schütz auf diese Frage gibt, lautet, dass Verständigung aufgrund wechselseitig vorzunehmender Idealisierungen möglich wird. Im einzelnen werden von ihm und von seinen Nachfolgern 5 Typen von Idealisierungen genannt: 1. Das Austauschbarkeitsaxiom ('Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standorte') Damit sich die Interaktionsbeteiligten in einer praktisch ausreichenden Weise verständigen können, machen sie die folgende Annahme: 'Ich setze es als selbstverständlich voraus, dass mein Mitmensch und ich typisch die gleichen Erfahrungen der gemeinsamen Welt machen würden, wenn wir unsere Plätze austauschten, wenn sich also mein 'Hier' in sein 'Hier' und sein 'Hier', für mich jetzt noch ein 'Dort', in mein 'Hier' verwandelte.' Und weiter: 'Ich nehme an, dass für ihn die entsprechenden Annahmen ebenfalls selbstverständlich sind.' 2. Die Gleichheitsidealisierung ('Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme') Eine zweite Unterstellung oder 'Idealisierung', wie Husserl diese Prozeduren nannte, lautet: 'So lange keine Widersprüche auftreten, ist es mir (und, wie ich annehme, auch meinen Mitmenschen) selbstverständlich, dass die Verschiedenheit der Perspektiven, die in unseren je einzigartigen biographischen Situationen ihren Ursprung hat, für die momentanen Absichten eines Jeden von uns irrelevant ist.' Als 'fraglos gegeben' nehmen die Individuen, so Schütz, an, dass 'die in ihrer Umwelt vorfindlichen menschlichen Körper mit einem Bewusstsein ausgestattet sind, das dem ihren prinzipiell ähnlich ist': 'Alle Erfahrung der sozialen Wirklichkeit ist auf das Grundaxiom der Existenz vom anderen Wesen 'gleich mir' fundiert.' Dieses Axiom ist in viele Richtungen hin spezifiziert und auf alle Typen der menschlichen Informationsverarbeitung ausgedehnt worden. So schreibt Schütz: 'Solange kein Gegenbeweis vorliegt, nehme ich als selbstverständlich hin, dass die verschiedenen Apperzeptions-[Wahrnehmungs-], Appräsentations- [Speicherungs-], Verweisungs- und Deutungsschemata, die in meiner Umwelt als typisch relevant gelten und von ihr bestätigt werden, auch für meine einzigartige biographische Situation und für die meines Mitmenschen in der Welt des Alltags relevant sind.' Man geht mit anderen Worten z. B. beim Beschreiben davon aus, dass die Gesprächspartner ihre Umwelt in ähnlicher Weise wahrgenommen haben, ihre Wahrnehmungen ähnlich typisieren und symbolisch darstellen, wie man dies selbst auch tun würde. 3. Die Idealisierung einer sequentiellen Verkettung Bezüglich der dynamischen Dimension der Interaktion nimmt Schütz einen 'Rhythmus sozialen Handelns' an: 'Der Gesprächspartner baut seinen Gedanken, den er mir vermitteln will, schrittweise auf, indem er ein Wort ans andere, einen Satz an den anderen und einen Abschnitt an den nächsten reiht. Während er dies tut, begleiten meine Deutungsakte sein kommunikatives Handeln im gleichen Rhythmus.' Die Verkettung zwischen den Aktionen der Gesprächspartner wird durch die sogenannten 'Um-Zu' oder 'Weil'-Motive hergestellt: Hörer sind verpflichtet, Wirkabsichten bei einem Sprecher zu unterstellen, Sprecher haben das Recht zu erwarten, dass ihren Äußerungen von den Zuhörern Motive unterstellt werden. 'So wird z. B. meine Frage an den anderen in der Absicht gestellt, ihm eine Antwort zu entlocken und seine Antwort wird durch meine Frage motiviert.' Die 'Um-Zu'- Motive' des Handelns des einen Gesprächspartners werden zu 'Weil'- Motiven des anderen Partners. Kallmeyer/Schütze sprechen von 'konditionellen Relevanzen' oder von den 'Zugzwängen', die die Interaktionspartner aufrichten, in dem sie sich selbst solcher Erwartungsmuster bedienen. Ebenfalls der Bewältigung der dynamischen Aspekte der Kommunikation dient die sogenannte 'et cetera'- Annahme, also die Unterstellung, dass die Typisierungen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, auch in der Zukunft erfolgreich bleiben werden, die Interaktionspartner also zur Erzielung vergleichbarer Resultate 'immer wieder' die gleichen Handlungen ausführen können. 4. Die Idealisierungen des gemeinsamen Symbolsystems In der sprachwissenschaftlichen und konversationsanalytischen Literatur selbst findet sich dann noch eine weitere Idealisierung, die sich auf das sprachliche Symbolsystem bezieht, dessen sich die Gesprächsteilnehmer als Mittler in der Kommunikation bedienen. 'Bis auf weiteres', so läßt sich dieses Axiom formulieren, 'gehen die Beteiligten in der Kommunikation davon aus, dass sie über ein gemeinsames sprachliches Symbolsystem verfügen, den Lauten und Zeichen die gleichen Bedeutungen zuschreiben, wie ihr Gegenüber.' Man setzt bei jedem Mitglied der Sprachgemeinschaft (native speaker) zunächst einmal ein ähnliches Wissen über die Standardbedeutungen von sprachlichen Ausdrücken und von morphologischen, syntaktischen und anderen Verknüpfungsregeln voraus. Ist eine sprachliche Äußerung nicht nach den normalen Erwartungen an den syntaktischen Aufbau und die Wortwahl organisiert, so treten Verständigungsschwierigkeiten auf, die sich aber durch Nachfragen lösen lassen. Natürlich ist diese Annahme eines 'gemeinsamen Symbolsystems' eine Idealisierung. Wir wissen, dass die sprachlichen Äußerungen kontextabhängig sind und deshalb von den Beteiligten immer wieder neu interpretiert werden müssen, und jeder Blick auf eine Transkription empirischer Kommunikation belegt die Vagheit und vor allem auch das häufige Abweichen von denjenigen Regeln, die wir für 'standardsprachlich' halten. Diese Vagheit muss, wie etwa in den Arbeiten von H. Garfinkel empirisch belegt wird, in jeder Kommunikation immer wieder erneut von den Gesprächsteilnehmern reduziert werden. 5. Das Manifestationsaxiom Ein letztes grundlegendes Axiom besagt, dass im Alltag die Bedeutungszuschreibungen, die die Interaktionspartner zur Äußerung vornehmen, im Verlauf des Gesprächs manifest werden: 'Um mich mit anderen zu verständigen, muss ich offenkundige Handlungen in der Außenwelt vollziehen, die von dem anderen als Zeichen dessen, was ich vermitteln will, interpretiert werden sollen.' Diese Manifestationen können entweder in sprachlichen Äußerungen oder in Körperbewegungen, der Mimik oder anderen Medien geschehen. In sprach-, kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten wird dieses Axiom häufig implizit oder explizit als Begründung für die Möglichkeit der Beschränkung des Datenmaterials auf Transkriptionen herangezogen. An einigen Stellen seines Werkes verschärft Schütz dieses generelle Manifestationsaxiom noch zu einem unmittelbaren Manifestierungsaxiom, in dem er nämlich darauf hinweist, dass ein wesentlicher Typ der Verkettung sozialen Handelns dadurch gekennzeichnet ist, dass eine 'vollzogene Handlung' eines Interaktionspartners 'unmittelbar [!] eine Reaktion des anderen motiviert und umgekehrt'. Implizit ist mit diesem unmittelbaren Manifestierungsgebot auch ein Mechanismus für den Umgang mit Verständigungskrisen formuliert: Sie sollen unmittelbar geäußert werden, auf dass sie ad hoc durch die nachfolgende Erwiderung des Partners bewältigt werden können. [...] Es ist nicht ganz klar, welchen Status die eben genannten 'Sozialitätsidealisierungen' besitzen. Handelt es sich hierbei lediglich um die Ergebnisse einer Überlegung über die Bedingungen der Möglichkeit von Verständigung oder sind die Annahmen bei der empirischen Untersuchung konkreter Kommunikation gewonnen? In der Fachliteratur gibt es hierzu eine umfangreiche Diskussion, in der zwischen den sog. 'Basisregeln' und 'normativen Regeln' unterschieden wird. Ersteren wird eine unhintergehbare apriorische Evidenz unterstellt, letztere sollen einen begrenzten Geltungsanspruch und empirischen Gehalt besitzen. Die Haltung von Schütz, der selbst nicht durch im engeren Sinne soziologische empirische Untersuchungen hervorgetreten ist, bleibt ebenfalls ambivalent. Er beschränkt die von ihm aufgestellten Axiome ausdrücklich auf die, wie er sie nennt, 'ausgezeichnete Wirklichkeit des Alltags'. Die besondere Problematik der Verständigung in Institutionen hat er durchaus gesehen: 'Soziale Kollektive und institutionalisierte Beziehungen sind jedoch keine Gegebenheiten im Sinnbereich der Alltagswirklichkeit' schränkt er die Anwendbarkeit seiner Axiome ein. Dort gelten mit anderen Worten andere oder zumindest: noch zusätzliche Regeln. Es ist also nicht ganz klar, in welcher Weise seine Axiome bei der empirischen Untersuchung institutioneller Kommunikation in Anschlag gebracht werden können." |
Aus: Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Suhrkamp Frankfurt a. M. 1997, S. 86-89. |