Welche therapeutische Idee liegt der Beratung zugrunde?
Jede Beratung macht dann Sinn, wenn die Selbstregulationsfähigkeiten
einer Person, einer Institution oder eben auch eines großen kulturellen
Systems gestört sind. Üblicherweise können Menschen und soziale
Organisationen auftretende Krisen mit ihren 'Bordmitteln' gut lösen. Krisen
sind ebenso üblich wie ihre mehr oder weniger schmerzhafte Bewältigung.
Erst wenn der Einsatz der traditionellen Krisenbewältigungsmechanismen
immer wieder misslingt, empfiehlt es sich, jemanden hinzuzuziehen, der in
die abgelaufenen Prozesse weniger stark integriert ist, und ein spezielles
Beratungssystem einzurichten.
Da es bislang kaum üblich gewesen ist, die neuzeitliche Kultur als ein
multimediales, Informationen massiv parallel verarbeitendes Netzwerk zu
begreifen, eignet sich diese Perspektive hervorragend dazu, den
abgelaufenen Entwicklungsprozess in einem neuen Licht erscheinen zu lassen,
Distanz zu schaffen. Wie immer, wenn das stillschweigende alltägliche
Einverständnis in Frage gestellt wird, muss man auch in diesem Fall von
vornherein zwar mit Verständigungsproblemen und einer gewissen Skepsis bei
den Klienten rechnen, aber gerade diese alternative Sichtweise kann eine
Neuorientierung erleichtern. Irritation ist der erste Schritt einer
Befreiung von erstarrten Vorurteilen.
Ist ein gewisses Mindestmaß an begrifflicher Gemeinsamkeit und
gegenseitiger Achtung hergestellt, kann in verschiedenen Schritten
kollektiver Selbst- und Umweltreflexion versucht werden, die Blockaden, die
es verhindern, dass die Krisen zutreffend erkannt und bewältigt werden, aus
dem Weg zu räumen.
Krankheitslehre
Jeder Berater hat hierbei seine eigenen Vorstellungen über die Ursachen
solcher Blockaden und über die aussichtsreichen Wege ihrer therapeutischen
Behandlung. Unabhängig davon ist es wichtig, die gegenwärtigen Strukturen, Programme
und Werte als Produkt mehr oder weniger langfristiger historischer
Entwicklungen zu begreifen. Auch die Krisen haben eine dynamische Dimension.
Im Einklang mit der psychoanalytischen Krankheitslehre sollte davon
ausgegangen werden,
dass Blockaden letztlich Wiederholungszwänge zugrunde liegen: Die Menschen
und/oder die Kulturen können mit abweichenden Erfahrungen / Strukturen nicht
fertig werden, weil sie an Normen und Programmen festhalten, die in einer
biographisch / historisch zurückliegenden Epoche entwickelt wurden, um ganz
andere Probleme zu bewältigen als jene, die gegenwärtig als drückend
empfunden werden. Neue Wege können nicht beschritten, kreative Potenziale
nicht genutzt werden, weil die Lebens- und/oder Kulturgeschichte dazu
nötigt, alles mit der alten Brille, der überkommenen Erkenntnistheorie, zu
sehen und mit den vorgefundenen Handlungsmustern und Werkzeugen zu lösen.
Diagnose und therapeutische Strategie
Die Aufgabe medienökologischer Trendforschung
besteht darin, solche dysfunktionalen
Programme zunächst einmal aufzudecken, ihre Ursprünge in der Geschichte zu
ermitteln und vor allen Dingen zu zeigen, inwiefern sie damals dem
ratsuchenden System dienlich waren. Denn es ist ja so, dass sich diese
Verhaltens- und Erlebensweisen nur deshalb festsetzen konnten, weil sie sich
einmal gut bewährt haben. Nun gilt es zu verstehen, inwieweit geänderte
Umweltbedingungen und eigene Veränderungen die Leistungsfähigkeit dieser
Programme in Frage stellen.
Dieser Ansatz erfordert immer eine historische Anamnese. Aus der bloßen
Beschreibung der Gegenwart - oder auch der jüngeren Vergangenheit - lassen
sich keine Erkenntnisse über die Funktionalität grundsätzlicher
Strukturen, Prozesse, Begriffe etc. gewinnen. Je fundamentaler die Krise,
desto größere historische Zeiträume müssen betrachtet werden.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es völlig unterschiedliche
Auffassungen über die historische Tiefe gibt, die für solche Anamnesen und
Diagnosen erforderlich sind. Wie bei der Beratung von Personen und
Institutionen auch, gibt es Schulen, die sich in ihrer Arbeit ganz auf das
Hier und Jetzt konzentrieren oder sogar nur die pragmatische Gestaltung der
Zukunft im Auge haben. Solche Ansätze sind nicht überflüssig,
aber genauso einseitig wie eine ausschließlich auf die Vergangenheit
abzielende Rekonstruktion. Natürlich muss der Ist-Zustand im Hier und Jetzt
erhoben werden. Dies haben in den letzten Jahren bspw. die einschlägigen
Kommissionen der Europäischen Union und das 'Forum
Informationsgesellschaft' getan. Profitieren kann man auch
von den Trendberichten von Matthias Horx, die selten einen längeren
Zeitraum als 20 Jahre berücksichtigen. Eine gezielte Erhebung des
Ist-Zustandes setzt aber historische Kenntnisse voraus, um überhaupt neue
von alten Strukturen unterscheiden zu können. Und um die Andersartigkeit
vergangener Epochen zu verstehen, muss man Zeitkritik betreiben.
Sehr klar hat dies Manuel Castells in seinem monumentalen Werk 'The Rise of
the Network Society', ausgedrückt: "The full understanding of the
current technological revolution would require the discussion of the
specificity of new information technologies vis-á-vis their historical
ancestors of equally revolutionary character, such as the discovery of
printing in China probably in the late seventeenth, and in Europe in the
fifteenth century, …." 1)
Vermutlich ist die historische Tiefe der Anamnese überhaupt ein gutes
Kriterium, um den Leistungsbereich aktueller Analysen der
Informationsgesellschaft zu ermitteln. Ein zweites Kriterium wäre,
ebenfalls in Analogie zu den modernen Beratungsansätzen, welcher Grad an
Selbstreflexion des eigenen Vorgehens für nötig gehalten wird.
Für den Augenblick scheint ein solches ausgewogenes synthetisierendes
Beratungsprojekt, so wünschenswert es ist, kaum zu verwirklichen.
Historiker und die jüngere Generation der Gegenwartsanalytiker sprechen
verschiedene Sprachen, und, was schwerer wiegt, sie können diese
Unterschiede damit rechtfertigen, dass ihre jeweiligen Sprachen mit jenen
der untersuchten Systeme im Einklang stehen.
1)
Manuel Castells: The Rise of
the Network Society, Band 1, Cambridge/Oxford 1996, S. 31.
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