Beispiel Störungen auf der Inhaltsebene: Unterschiedliche Systemdefinitionen (Beispiel von Michael Balint)
 

Ein Patient kommt mit neurotischen Beschwerden (z. B. Kopfschmerzen oder Kreuzschmerzen) zum Arzt. Der Arzt stellt nach eingehender Untersuchung keine organischen Schäden fest und sagt dann: "Sie haben nichts". Der Patient ist vermutlich enttäuscht und bringt das zum Ausdruck, oder er wechselt den Arzt und verbreitet einen schlechten Leumund über den betreffenden Arzt. Was ist hier passiert ?

 

Vom subjektiven Relevanzsystem aus gesehen ist der Patient krank - er hat ja auch schließlich ein Symptom. Das passt allerdings nicht in die ärztlich-medizinische Krankheitslehre des Arztes, sondern es liegt auf einer anderen Ebene, einer psychosomatischen oder auch auf einer gänzlich psychischen, die zu erkennen und anzusprechen der Arzt nicht ausgebildet ist. Seine Aussage "Sie haben nichts" ist also falsch, denn die Probleme des Patienten können mit dem ihm zur Verfügung stehenden medizinischen Fachvokabular allein nicht beschrieben werden. Darüber hinaus ist die Aussage nicht nur falsch, sondern sie weist implizit auch das Bedürfnis des Patienten nach Hilfeleistung zurück. In der Terminologie Balints selber könnte man sagen, der Arzt weist das 'Krankheitsangebot' des Patienten zurück und produziert damit eine Kommunikationsstörung. Die Störung basiert auf der Inhaltsebene (unterschiedliche Relevanzsysteme), wird aber vermutlich schnell auf die Beziehungsebene 'übergreifen', denn das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist gestört.
Wie könnte die Störung vermieden werden? Ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses ist nach Balint die Reaktion des Arztes auf ein Krankheitsangebot. Es wäre damit Sache des Arztes, sich fortzubilden, um andere Diagnosen, Gesprächsmöglichkeiten oder gegebenenfalls auch Heilverfahren anbieten zu können. Das Anliegen Balints war es, Ärzte auf dem Gebiet der psychosomatischen Medizin fortzubilden, indem er gerade die Gesprächsfertigkeiten der Mediziner schulen wollte - also 'Systemerweiterung' versuchte.

 

Michael Balint war Arzt und Psychoanalytiker in London. Er versuchte, Anfang der 50er Jahre insbesondere praktische Ärzte im Umgang mit psychosomatischen Erkrankungen zu schulen. Ausgangspunkt und Lernfeld waren Gruppendiskussionen, in denen Praktiker über ihre Probleme mit Patienten sprachen. Balints Gedanke war, dass die Beziehungsdynamik in der Gruppe die Schwierigkeiten zwischen Arzt und Patient widerspiegelt. Gelernt wird über den dadurch in Gang gesetzten Selbstreflexionsprozess ('Balintgruppen').

 

 
Leitfaden: Typen von Kommunikationsstörungen aus der Sicht verschiedener Kommunikationsmodelle - theoretischer Leitfaden

 

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