![]() |
Instruktion und Wissensvermittlung aus kultureller Sicht (Leittext) |
Bildung (Sozialisation) und Unterricht (Wissensvermittlung, Instruktion) sind Oberbegriffe für jene Verfahren, mit denen sich die menschlichen Kulturen reproduzieren. So wie biologische Arten sich letztlich durch Zellteilung über die Zeit erhalten, so die sozialen Systeme durch das Kopieren von Wahrnehmungsweisen, Verhaltens- und Vernetzungsformen, von Wissen, Werkzeugen und anderen kulturellen Errungenschaften. Ohne Erziehung und Wissensvermittlung kann sich die Gesellschaft und können sich deren Teilsysteme einschließlich der Gruppen und Schichten sowie der einzelnen Menschen als Elemente einer Kultur nicht erhalten. |
Zu allen zivilisatorischen Gegenständen (Maschinen,
Kulturpflanzen, Gärten, Verkehrswege, bebaute Räume usf.) und Handlungen
(Pflanzen, Begrüßen, Argumentieren, Beten, Heiraten etc.) müssen die erforderlichen
Anwendungs-, Nutzungs- bzw. Durchführungsprogramme von Generation zu Generation
wieder neu in den psychischen und sozialen Systemen erzeugt werden. Die
Reproduktion der äußeren, materiellen Arsenale reicht nicht aus. Diese grundlegende Bedeutung von Ausbildung und Unterricht für menschliche soziale Systeme gibt der 'Unterrichtslehre' von vornherein eine starke gesellschaftspolitische Dimension. Wer welches Wissen an wen weitergeben kann, das sind kulturpolitische Machtfragen, die in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich beantwortet werden. Das nationalstaatliche Bildungswesen, das in Deutschland augenblicklich (noch) strukturbestimmend wirkt, reicht in seinen Anfängen gerade 500 Jahre zurück.1) Seine Eckpfeiler: allgemeine Schulpflicht, staatliche Oberhoheit über das Bildungswesen, Dreigliedrigkeit stehen gegenwärtig schon wieder zur Diskussion. Ebenso das Grundmodell kultureller Reproduktion: trotz aller Unterschiede im Detail gingen die Bildungstheorien der Buch- und Industriekultur davon aus, dass diese Kultur durch die Summe der einzelnen Bürger gebildet wird. Konsequenterweise wendeten sich alle Instruktionsformen an das einzelne Individuum - und nicht an Gruppen oder Institutionen. Pädagogik nutzt psychologische Erkenntnis, geprüft wird die einzelne Person, nicht das unterrichtete Kollektiv. Mittlerweile ist diese Grundüberzeugung erschüttert. Nicht nur die Bildungstheoretiker der Europäischen Union sprechen von den 'lernenden Gesellschaften' und die neuen Managementschulen von 'lernenden Organisationen'. Es macht sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft die Auffassung breit, dass überindividuelle, soziale Systeme Subjekt und Objekt von Instruktionen sein können und zukünftig sein müssen. Teamarbeit meint ja auch Lernen im Team als Team. Die Bedingungen für das Lernen (und Unterrichten) von sozialen Systemen scheinen vielfach andere zu sein als für jene des Individuums. Das drückt sich beispielsweise in den Moderationstechniken aus, die speziell für das Lernen in Gruppen entwickelt wurden. Die folgenden Aussagen konzentrieren sich auf die traditionellen Formen der Instruktion zwischen Individuen bzw. zwischen Individuum und den als Summe von Individuen aufgefassten Schüler-/Laiengruppen.
|
|
Instruktion und Wissensvermittlung aus Sicht der Lernenden |
Bisher wurde Unterricht im wesentlichen als Informationsreproduktion:
als Verdopplung von individuellem Wissen (Vergesellschaftung von Informationen,
Sozialisierung) bzw. als Individualisierung gesellschaftlich ausgearbeiteter
Kenntnisse und Fähigkeiten definiert. Entsprechend interessierte vor allem,
wie Parallelverarbeitung von Informationen/Spiegelungen bzw. die Normierung
von Informationsverarbeitungsprozessen möglich sind. Lernen lässt sich aber aus der Sicht des lernenden Individuums bzw. der lernenden Gruppe immer auch als ein Prozess verstehen, der neue Strukturen schafft und Wiederholungszwänge durchbricht. Es mag aus der Sicht der Gesellschaft um bloße Verdopplung von Wissen gehen - das Individuum, welches lernt, muss sich verändern, um eine solche Verdopplung zu ermöglichen. Für ihn ist Lernen ein kreativer Prozess. Wie selbstverständlich dem Experten auch immer sein Unterrichtsstoff erscheint, für den Laien ist seine Aneignung innovativ, riskant und traurig zugleich. Sie bedeutet Aufbruch zu Neuem und einen Abschied von vorhandenen Vorstellungen. Berücksichtigt man beide Perspektiven, so erscheint Unterricht als ein ambivalenter Vorgang.2) Gesellschaftliche Reproduktion (Arterhaltung) ist nicht ohne Innovation auf der Ebene der Individuen zu haben. Diese Paradoxie auszuhalten und ihre beiden Pole im Lernprozess immer wieder zu berücksichtigen, zeichnet gute Pädagogen aus. Was also ist Lernen (unterrichtet werden) aus der Sicht des Laien? Aus informationstheoretischer Sicht verändert sich in der Ontogenese des Menschen die Tektonik und die Dynamik (und die Umwelt) des Menschen. Diesen kann man sich als ein Netzwerk verschiedener Typen informationsverarbeitender Systeme vorstellen. Das Kleinkind bevorzugt andere Sensoren und Effektoren als der Erwachsene (vgl. z. B. die Freudsche Entwicklungstheorie: oral, anal, ödipal). Es nutzt andere Informationsmedien. Durch das Lernen werden Verbindungen zwischen den 'Knoten' (Prozessoren/Neuronen ...) des psychischen und/oder neuronalen menschlichen Netzwerks hergestellt bzw. unterbrochen. 'Wege' werden verstärkt, es entstehen Aktivitätszentren und Peripherien. Entwicklung heißt hier also vor allem: Veränderung der internen Differenzierung und Verschiebung der Gewichte. Dabei ist zu beachten, dass es keine bloße Anreicherung der Software ohne gleichzeitige Veränderung der Hardware gibt. Veränderung der Informationen bedeutet immer auch eine Veränderung des informationsverarbeitenden Systems. Solche Veränderungen werden u. a. dadurch in Gang gesetzt und ermöglicht, dass der Mensch künstliche, prothetische Sensoren, Effektoren und Speicher, z. B. die Sprache, die Schrift und das Fernsehen, nutzen lernt. |
1) Das Mittelalter kannte keine öffentlichen (staatlichen) sondern nur private, berufs-, gruppen-, institutionen- und schichtenspezifische Ausbildungsinstitutionen (Winkelschulen, Lehre, Universitäten, kirchliche Einrichtungen, 'Ritter'schulen). |
2) Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass interaktive Prozesse (Kommunikation) immer aus mindestens zwei Perspektiven beschrieben werden müssen. Die Metaperspektive kann nur ein Reflexionsprodukt sein, und sie muss in jedem Fall die Perspektivendifferenzen berücksichtigen. |