Fließtext Schlüsselqualifikation 'Kooperative Informationsverarbeitung'
 

Soziale Systeme unterscheiden sich durch die Art und Weise, in der sie 3 miteinander zirkulär verknüpfte Grundprobleme behandeln:
Kollektive Wahrnehmung und Informationsverarbeitung (è Kommunikation),
Regulation der zwischenmenschlichen Beziehung (è Interaktion),
Lösung sozialer Aufgaben (è Kooperation).

Aus informationstheoretischer Perspektive sind Gespräche Formen von kooperativer Informationsverarbeitung. Sie wird erforderlich, wenn die einzelnen Individuen die für sie notwendigen Erfahrungen nicht allein gewinnen oder interpretieren können. Sie suchen sich dann Gesprächspartner, bilden soziale Systeme, in denen sie gemeinsam wahrnehmen und reflektieren.

Sowohl lebensgeschichtlich als auch historisch differenzieren sich diese Kooperationsformen und die dabei verwendeten Medien zunächst immer mehr aus. Was zu Beginn unentwirrbar miteinander verknüpft war, hat sich am Ende abgetrennt und spezialisiert. Dies ist der Gang nicht nur der Technik und der Kultur, sondern eben auch der Kommunikation. Arbeitsteilung führt zu Spezialisierung und Professionalisierung.

Zu den wichtigsten kommunikativen Kooperationsformen, die in unserer Kultur von jedem Heranwachsenden ausdifferenziert werden müssen, gehören das Erzählen, das Beschreiben, das Argumentieren und der Dialog. Jede dieser Kommunikationsformen hat andere Ziele und Erfolgskriterien; jede führt zu unterschiedlichen Rollenbeziehungen zwischen den Kommunikationspartnern, entwickelt unterschiedliche Formen der Erfahrungsgewinnung und zieht unterschiedliche Formen der Institutionalisierung und Professionalisierung nach sich. Einen kurzen Überblick über die Merkmale kommunikativer Kooperationsformen gibt folgende schematische Darstellung: Schema: Kommunikative Kooperationsformen und ihre professionelle Ausdifferenzierung

Die distanzierte, betrachtende Erfahrungsgewinnung und die beschreibende Weitergabe des so gewonnenen Wissens ist die Keimzelle sowohl der neuzeitlichen Wissenschaft als auch der wichtigsten Institutionen der Aus- und Weiterbildung: der Schule, der Universität und der Fachliteratur. Dieses ganze Paradigma wird hier abkürzend als 'Instruktion' bezeichnet.

Diese Form der Kommunikation führt immer zur Reproduktion des Verhaltens, des Wissens und des Erlebens des Redners, also zu einer Verdoppelung von schon vorhandenen Informationen, zur Reproduktion von fertigem, gesellschaftlich akzeptiertem Wissen. Die Instruktion hat eine asymmetrische Beziehungsstruktur (komplementäre Rollen): Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Beamter und Klient etc. Sie stellt sich allen Beteiligten im wesentlichen als ein überlegtes Einwirken des Experten auf den Laien, also als eine intentionale Handlung dar. Entsprechend werden auch ihre Erfolgsbedingungen im wesentlichen monokausal verortet: die Instruktion ist gelungen, wenn das Kompetenzdefizit, also der Wissensunterschied zwischen den Beteiligten, im gewünschten Umfang verringert werden kann. Da nur der Experte den erforderlichen Wissensvorsprung hat, liegt bei ihm die Hauptlast; dem Laien kann im Falle des Misserfolges eigentlich nur mangelnde Reflexionsfähigkeit ('Dummheit') zugeschrieben werden.

Wann immer in dem instruktiven Paradigma von 'Wissen' die Rede ist, dann liegt diesem Begriff ein aus den beschreibenden Naturwissenschaften der Neuzeit entlehntes Verständnis zugrunde. Man geht davon aus, dass es ein richtigen Wissen gibt, dass unabhängig von der konkreten Situation und von den beteiligten Personen vermittelt werden kann. Man ist davon überzeugt, dass dieses Wissen in vorgelagerten Institutionen vielfältig geprüft wurde und mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten kann. Gerade das objektive Wissen ist es ja, was man dem Experten zugute hält. Und als 'objektiv' oder als 'wahr' gilt solches Wissen, welches unabhängig von den speziellen Subjekten zu allen Zeiten und an allen Orten gilt. Voraussetzung dafür ist, dass es in einer ebenfalls asymmetrischen Beziehung gewonnen wurde, auf deren einen Seite der wissenschaftliche Experte und auf deren anderen Seite die Untersuchungsobjekte oder die zu untersuchende Umwelt stehen. Die Methodologie ist darauf aus, möglichst wenig Wechselwirkung zwischen diesen beiden Polen zuzulassen und statt dessen die Forschung als eine einseitige, unbeeinflusste Beobachtungshandlung des Wissenschaftlers/Beobachters ablaufen zu lassen. Es geht eben um eine distanzierte, unpersönliche Form der Erfahrungsgewinnung.

Dies alles ist beim 'Erzählen' und den sich daraus entwickelnden therapeutischen Interaktionsformen ganz anders. Hier geht es nicht um die äußere, sichtbare Umwelt, sondern um das Selbst, die Innenwelt der beteiligten Menschen. Es sollen gerade die Erfahrungen der erzählenden Person kollektiv verarbeitet werden. Das setzt voraus, dass auch die subjektiven Bewertungen, die Emotionen, in welcher sprachlichen oder gestischen oder mimischen Form auch immer, ausgedrückt werden. Der Gegenüber tritt als Mensch gleich dem Erzähler auf. Er kann über die inneren Empfindungen des Erzählers zunächst ja auch nicht besser Bescheid wissen als dieser selbst. Im Gegenteil: Nur insoweit, als der Erzähler etwas von sich preisgibt, kann der Zuhörer etwas über dessen (psychische) Informationen erfahren. Jeder Beteiligte bleibt Experte für sich und Laie für den Gegenüber. Neue Erkenntnis kommt in diesem Setting zustande, indem die geäußerten Informationen gemeinsam reflektiert werden. Es wird also nicht über die Umwelt, sondern über das, was man in der Interaktion gemeinsam erzeugt hat, nachgedacht. Aus diesem Grunde nennt man diese Kommunikationsform auch 'selbstreferentiell' oder 'selbstreflexiv'. Selbstreferentielle Kommunikation setzt einen beständigen Tausch der Rollen voraus. In den einzelnen Phasen wird der Experte zum Laien, der sich z. B. über die Probleme erst aufklären lassen muss, und der Laie also zum besseren Kenner der Materie; dann wieder wird der Laie zum Zuhörer und so fort. Im Gegensatz zur Instruktion muss geradezu vermieden werden, dass sich die Intentionen eines Einzelnen ungebrochen durchsetzen, weil es bedeutete, dass dieser in dem Gespräch nichts dazugelernt hätte - und folglich die Informationen der übrigen Gesprächsteilnehmer brach gelegen haben. Je größer die Anzahl der Beteiligten, um so bedauerlicher wäre ein solcher Ablauf. Zumal in Gruppengesprächen, wie z. B. in Teambesprechungen, sollte das Ergebnis, wenn man sich denn darauf geeinigt hat, das selbstreferentielle und kooperative Paradigma zu nutzen, deshalb immer etwas sein, was sich erst im Hier und Jetzt des Gesprächsablaufs durch die vereinten Anstrengungen aller Beteiligten herausbildet. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ergebnis nichts sein kann, was von Außen als fertiges Produkt übernommen wird, also auch kein vorab gegebenes 'objektives Wissen' - und sei es durch die Wissenschaften noch so bewährt. Vielmehr setzt hier die Einigung Selbstbeobachtung voraus, und diese kann jedes System nur individuell und mit je spezifischen Ergebnissen leisten. Das in solchen Gesprächen gewonnene 'Wissen' gilt aus diesem Grunde auch nicht als eine Information über die Umwelt, sondern als eine solche über das System selbst. Ganz im Gegensatz zum traditionellen Verständnis der beschreibenden Wissenschaften erscheint die Erkenntnis nicht als Produkt der Umweltbeobachtung, sondern als Produkt der Selbstbeobachtung des sozialen Systems.
Die professionellen Ausdifferenzierungen der beschreibenden und der erzählenden Kommunikation, also das schulische und wissenschaftliche Lernen und Lehren einerseits und die verschiedenen Formen der Therapie andererseits, haben lange Zeit ziemlich unverbunden nebeneinander gestanden. 'Instruktion und Beratung' wurde von der neuzeitlichen Gesellschaft immer positiv bewertet, 'Therapie' galt als eine Veranstaltung für Kranke. Entsprechend haben sich Schule und Wissenschaft gegen 'therapeutische' Formen der Erfahrungsgewinnung und Kommunikation abgeschottet.
In der letzten Zeit hat man allerdings erkannt, dass es vielfältige Übergänge zwischen diesen Interaktionsformen gibt. Phasenweise spielt selbstreflexives Lernen in der Wissenschaft eine Rolle, und andererseits kommt man ohne die distanzierte betrachtende Erkenntnis auch in vielen therapeutischen Konstellationen nicht aus.

Die Integration von distanzierter Umweltbetrachtung und selbstreferentieller Erfahrungsgewinnung gehört gegenwärtig jedenfalls zu den kommunikativen Schlüsselqualifikationen.

 

 
Theoriediskussion: Die Begründung selbstreferentieller Erfahrungsgewinnung aus systemtheoretischer Sicht

 

 

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