„Bisher haben wir uns auf jene Nachrichten der äußeren
Welt konzentriert, die durch einen einzigen Empfindungskanal (Sehen,
Hören usw.) oder sogar innerhalb eines solchen Kanals auf eine einzige
Kommunikationsart zum Individuum gelangen; die Kommunikationsart wurde bestimmt:
- entweder durch ihre Dimensionen, wie wir es in der Klassifizierung
in Kapitel 1, §1 skizziert haben:
- gedruckter Text (L),
- Bild (L2): Zeichnung, Photographie, Malerei,
- bewegtes Bild (L2 T): Film, Trickfilm usw.,
oder durch die physikalische Natur des Kanals, seine Strukturierung
und sein Zeichenrepertoire:
- Rede,
- Dichtung,
- Musik,
- Photographie.
Sämtliche bisher aufgezeigten Mechanismen, sowohl die allgemeinen,
die für alle Nachrichten gelten (Kap. I, II und III), wie auch die,
denen speziell die zeitlichen, insbesondere die klanglichen Nachrichten
gehorchen (Kap. IV und V) betreffen die Übermittlung einer einzigen
solchen Nachricht an das Individuum sowie dessen Reaktion darauf. Wir erhalten
eine recht zufriedenstellende Annäherung an zahlreiche Wirklichkeitsaspekte;
das Individuum tritt nämlich mit der Umwelt dadurch in Verbindung,
dass es seine Aufmerksamkeit auf einen ihrer Aspekte richtet,
den visuellen, den auditiven usw. Viele künstlerische Nachrichten,
besonders die traditionellen, gehören zu dieser Kategorie: Photographie,
Zeichnung, Musik usw., und wir nehmen gewöhnlich an, dass das gleichzeitige
und zufällige Vorhandensein mehrerer Empfindungsreize ihre gegenseitige
Störung bedeutet. Durch einen Willensakt versuchen wir, bestimmte Reize
zugunsten anderer auszulöschen, und das scheint eine der Voraussetzungen
der ästhetischen Situation zu sein.
Wenn wir einem Radiokonzert zuhören (und es nicht nur passiv hören),
haben wir keine Aufmerksamkeit für Gedrucktes übrig und umgekehrt.
Neue soziologische Arbeiten zur Rundfunkmusik verweisen überstimmend
kritisch – vom streng künstlerischen Standpunkt – auf die
diffuse marginale Aufmerksamkeit, die das Individuum zur
Aufnahme jedweder Nachricht disponibel macht. Es scheint erwiesen (SILBERMANN),
dass die Aufmerksamkeit bei gleichzeitigem Empfang verschiedener und beziehungsloser
Nachrichten Schwankungen ausgesetzt ist; sie wendet sich bald der einen
(Musik), bald der anderen (Lektüre), bald der dritten Nachricht (Rede
in der Unterhaltung) zu. Im ganzen gesehen sammelt der Empfänger, und
zwar auf Kosten jeder einzelnen Nachricht, ein Mosaik von verschiedenen
Wahrnehmungen, die er annähernd wiederherstellt.
Zur vollständigen Wahrnehmung einer der künstlerischen
Nachrichten ist eine Aufmerksamkeit notwendig, die die anderen je nach der
Stärke unseres sensoriellen Interesses mehr oder weniger wirksam ausschließt.
Die allgemeine Ästhetik lehrt uns jedoch, dass es außer den einfachen
tatsächlich mehr oder weniger untereinander interferierende Nachrichten,
sogenannte multiple Nachrichten gibt, bei denen mehrere Kanäle
oder mehrere Arten ihres Gebrauchs für die Kommunikation gleichzeitig
in einer ästhetischen oder einer Wahrnehmungs-Synthese verwendet
werden, wo es keine Interferenz, sonder Konkordanz der logischen Bedeutungen
gibt, die gleichzeitig im Einvernehmen miteinander auf die verschiedenen
Arten übermittelt werden. Der banalste Fall ist der der Wahrnehmung
anderer Menschen: das menschlichen Wesen stellt sich nicht durch eine einzige
Nachricht dar wie beim Telefonieren, sondern durch die Vielzahl seiner Manifestationen.
Die ‘Nachricht’, die ein anderer für uns darstellt, ist
seine Totalität, und jeder Missklang im Kontrapunkt der Einzelnachrichten,
die er uns zukommen lässt, wird zum Alarmsignal für den
Empfänger.
Viele Künste beruhen auf multiplen Nachrichten, die zum Teil an unterschiedliche
Kanäle gebunden sind:
- das Theater ist Darstellung anderer oder unserer selbst und enthält
eine Klangnachricht (Wort) und eine visuelle Nachricht (Geste);
- der Tonfilm (L2T) ist wie jeder künstliche Kanal besonders
instruktiv, weil er Bild und Ton in ihrer Materialität trennt;
- das Fernsehen betrachten wir so lange nur als Kommunikationsart
– also als Weiterentwicklung des Film –, bis es seine eigenen
Gesetze gefunden hat;
- der dreidimensionale Film (Cinerama) (L3T) wird hier nur der
Vollständigkeit halber erwähnt;
- das Ballett ist für die Ästhetik insofern sehr interessant,
als seine beiden Kanäle, der visuelle und der akustische, hier fast
beständig die gleiche Bedeutung haben.
Andere multiple Nachrichten dagegen haben denselben Kanal, der aber auf
verschiedene Arten verwendet wird; hier nennen wir besonders die zeitlichen
Künste:
- die Rundfunkoper oder das Rezitativ: es handelt sich
um die Überlagerung einer gesprochenen oder poetischen Nachricht und
einer musikalischen;
- die Oper: hier überlagern sich zumindest drei Nachrichten
– eine visuelle, eine vokale und eine musikalische.
Nachdem wir die wichtigste Zeitkunst für sich untersucht haben, fragen
wir uns, was die Informationstheorie in großen Zügen zur Ästhetik
der Künste mit multiplen Nachrichten beitragen kann, deren Untersuchung
noch außerordentlich fragmentarisch ist und bis jetzt nur einen ziemlich
literarischen oder dokumentarischen Aspekt eröffnet hat, ohne irgendwie
in den Bereich der ästhetischen Wissenschaft zu gelangen.“ |