Multiple Nachricht (A. Moles)

   
  Aus: Abraham A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Köln, 1971.
 
S. 234-236
„Bisher haben wir uns auf jene Nachrichten der äußeren Welt konzentriert, die durch einen einzigen Empfindungskanal (Sehen, Hören usw.) oder sogar innerhalb eines solchen Kanals auf eine einzige Kommunikationsart zum Individuum gelangen; die Kommunikationsart wurde bestimmt:
- entweder durch ihre Dimensionen, wie wir es in der Klassifizierung in Kapitel 1, §1 skizziert haben:
- gedruckter Text (L),
- Bild (L2): Zeichnung, Photographie, Malerei,
- bewegtes Bild (L2 T): Film, Trickfilm usw.,
oder durch die physikalische Natur des Kanals, seine Strukturierung und sein Zeichenrepertoire:
- Rede,
- Dichtung,
- Musik,
- Photographie.
Sämtliche bisher aufgezeigten Mechanismen, sowohl die allgemeinen, die für alle Nachrichten gelten (Kap. I, II und III), wie auch die, denen speziell die zeitlichen, insbesondere die klanglichen Nachrichten gehorchen (Kap. IV und V) betreffen die Übermittlung einer einzigen solchen Nachricht an das Individuum sowie dessen Reaktion darauf. Wir erhalten eine recht zufriedenstellende Annäherung an zahlreiche Wirklichkeitsaspekte; das Individuum tritt nämlich mit der Umwelt dadurch in Verbindung, dass es seine Aufmerksamkeit auf einen ihrer Aspekte richtet, den visuellen, den auditiven usw. Viele künstlerische Nachrichten, besonders die traditionellen, gehören zu dieser Kategorie: Photographie, Zeichnung, Musik usw., und wir nehmen gewöhnlich an, dass das gleichzeitige und zufällige Vorhandensein mehrerer Empfindungsreize ihre gegenseitige Störung bedeutet. Durch einen Willensakt versuchen wir, bestimmte Reize zugunsten anderer auszulöschen, und das scheint eine der Voraussetzungen der ästhetischen Situation zu sein.
Wenn wir einem Radiokonzert zuhören (und es nicht nur passiv hören), haben wir keine Aufmerksamkeit für Gedrucktes übrig und umgekehrt. Neue soziologische Arbeiten zur Rundfunkmusik verweisen überstimmend kritisch – vom streng künstlerischen Standpunkt – auf die diffuse marginale Aufmerksamkeit, die das Individuum zur Aufnahme jedweder Nachricht disponibel macht. Es scheint erwiesen (SILBERMANN), dass die Aufmerksamkeit bei gleichzeitigem Empfang verschiedener und beziehungsloser Nachrichten Schwankungen ausgesetzt ist; sie wendet sich bald der einen (Musik), bald der anderen (Lektüre), bald der dritten Nachricht (Rede in der Unterhaltung) zu. Im ganzen gesehen sammelt der Empfänger, und zwar auf Kosten jeder einzelnen Nachricht, ein Mosaik von verschiedenen Wahrnehmungen, die er annähernd wiederherstellt.
Zur vollständigen Wahrnehmung einer der künstlerischen Nachrichten ist eine Aufmerksamkeit notwendig, die die anderen je nach der Stärke unseres sensoriellen Interesses mehr oder weniger wirksam ausschließt. Die allgemeine Ästhetik lehrt uns jedoch, dass es außer den einfachen tatsächlich mehr oder weniger untereinander interferierende Nachrichten, sogenannte multiple Nachrichten gibt, bei denen mehrere Kanäle oder mehrere Arten ihres Gebrauchs für die Kommunikation gleichzeitig in einer ästhetischen oder einer Wahrnehmungs-Synthese verwendet werden, wo es keine Interferenz, sonder Konkordanz der logischen Bedeutungen gibt, die gleichzeitig im Einvernehmen miteinander auf die verschiedenen Arten übermittelt werden. Der banalste Fall ist der der Wahrnehmung anderer Menschen: das menschlichen Wesen stellt sich nicht durch eine einzige Nachricht dar wie beim Telefonieren, sondern durch die Vielzahl seiner Manifestationen. Die ‘Nachricht’, die ein anderer für uns darstellt, ist seine Totalität, und jeder Missklang im Kontrapunkt der Einzelnachrichten, die er uns zukommen lässt, wird zum Alarmsignal für den Empfänger.
Viele Künste beruhen auf multiplen Nachrichten, die zum Teil an unterschiedliche Kanäle gebunden sind:
- das Theater ist Darstellung anderer oder unserer selbst und enthält eine Klangnachricht (Wort) und eine visuelle Nachricht (Geste);
- der Tonfilm (L2T) ist wie jeder künstliche Kanal besonders instruktiv, weil er Bild und Ton in ihrer Materialität trennt;
- das Fernsehen betrachten wir so lange nur als Kommunikationsart – also als Weiterentwicklung des Film –, bis es seine eigenen Gesetze gefunden hat;
- der dreidimensionale Film (Cinerama) (L3T) wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt;
- das Ballett ist für die Ästhetik insofern sehr interessant, als seine beiden Kanäle, der visuelle und der akustische, hier fast beständig die gleiche Bedeutung haben.
Andere multiple Nachrichten dagegen haben denselben Kanal, der aber auf verschiedene Arten verwendet wird; hier nennen wir besonders die zeitlichen Künste:
- die Rundfunkoper oder das Rezitativ: es handelt sich um die Überlagerung einer gesprochenen oder poetischen Nachricht und einer musikalischen;
- die Oper: hier überlagern sich zumindest drei Nachrichten – eine visuelle, eine vokale und eine musikalische.
Nachdem wir die wichtigste Zeitkunst für sich untersucht haben, fragen wir uns, was die Informationstheorie in großen Zügen zur Ästhetik der Künste mit multiplen Nachrichten beitragen kann, deren Untersuchung noch außerordentlich fragmentarisch ist und bis jetzt nur einen ziemlich literarischen oder dokumentarischen Aspekt eröffnet hat, ohne irgendwie in den Bereich der ästhetischen Wissenschaft zu gelangen.“
 
S. 242
„…Analogiemodells der Wahrnehmung.
Tatsächlich bestünde eine der unmittelbarsten Methoden der Wahrnehmungsuntersuchung im Sinne der Kybernetik darin, ein Modell herzustellen, in dem die aufeinanderfolgenden Zeichenrepertoires in Registern gespeichert würden und die bei der Eingabe entsprechend kodierte Nachricht, den Gesetzen eines jeden Repertoires folgend, auf die verschiedenen Stockwerke verteilt würde; das gesamte Modell müsste in zwei Teile geteilt sein, einen für den semantischen und einen für den ästhetischen Aspekt der Nachricht. Einer der Untersuchungsgegenstände wäre die Feststellung der aleatorischen Fluktuationen der Aufmerksamkeit. …“
 
S. 243
„…Tatsächlich können gewisse Gesetze, die irgendeine untergeordnete Struktur beherrschen, eine weniger zwingende Kraft besitzen als die, welche die entsprechende Struktur in der anderen Teilnachricht regieren. Unter diesen Bedingungen verdrängt begreiflicherweise die eine Struktur die andere und taucht im Signal als dominant auf. So kann sich ein sehr verständliches melodisches Thema in einem gewissen Moment vordrängen und in der gesungenen Musik die vokalen Strukturen vollständig beherrschen, die sich den zeitlichen Konturen der Klangobjekte anpassen sollen; dabei kann es zu einer Deformierung, ja sogar zu einer Zerstörung der vokalen Organisation kommen. …“
 
Vgl. Strukturgesetze der multiplen Nachricht