Beispiel Spiegelungen zwischen Krankheiten und Institutionen (AIDS-Hilfe)
   
Der spiegelungstheoretische Ansatz leistet auch einen Beitrag zum Verständnis der Beziehung zwischen Krankheit und Sozialverhalten. Wie können sich bestimmte Krankheiten in der sozialen Informationsverarbeitung und in den Formen kommunikativer Vernetzung ausdrücken?
Eine empirische Untersuchung einer Aids-Beratungsstelle (1988) kam zu folgenden Hypothesen: „Wenn AIDS auch bedeutet, jegliches Eingehen von Beziehungen bzw. jegliche Kommunikation und Interaktion unter dem Blickwinkel der Gefahr einer tödlichen Infektion zu betrachten, dann ist die ‘Welt’ durch diese Bedrohung eine andere geworden. ...
Kommunikationstheoretisch ist interessant dass AIDS durch zuviel oder ‘falsche’ Kommunikation entsteht (Abgrenzungsprobleme, Immunschwäche, Kontakte etc.) und ebenso zu beobachten ist, wie sich die Betroffenen vor Kommunikation und Kontakt mit dem ‘Außen’ zu schützen lernen. AIDS-Probleme sind immer auch Abgrenzungsprobleme, und latent wird diese Einsicht durch die Beratungsstelle agiert.“
Beispielsweise wird die für jede verbale Interaktion in nicht-institutionellen Kommunikationskontexten typische Rollenübernahme von den Beratern als Bedrohung erlebt. „Identifikation“ wird vor der Folie des medizinisch-biogenen Programms als ‘Infektion’ erlebt. Sowenig es 1988 eine Probeinfektion mit AIDS – z.B. in Form einer Impfung – gab, sowenig sind Probeidentifikationen mit den Klienten angesagt. Das schlägt sich direkt im Beratungskonzept und im gesamten Selbstverständnis der Beratungsstelle nieder: „Wichtigste Aufgabe der Institution ist es nicht, die Nichtinfizierten vor Ansteckung zu bewahren, sondern die Infizierten vor dem Kontakt mit den Nichtinfizierten zu schützen. Somit schafft die Institution zwar ‘Kommunikationsräume’, in denen die als Betroffene Typisierten sich mit der Krankheit auseinandersetzen nach dem Motto „Hier bin ich infiziert, hier darf ich sein.“ und verhindert genau dadurch eine Auseinandersetzung von Betroffenen und (noch) Nicht-Betroffenen.
Das Problem der Beziehung von Infizierten und Nichtinfizierten reproduziert sich durch die scheinbare Lösung der Institution als Schutzeinrichtung.“ (Ebd. S. 75)
Die Kommunikation zwischen der Beratungsstelle und (nichtinfizierten) Ratsuchenden erwies sich im untersuchten empirischen Fall als grundsätzlich gestört.
 
Dass es Spiegelungen zwischen den biogenen und den sozialen Phänomenen gibt, wurde von der untersuchten Beratungsstelle durchaus gesehen. In einem Zeitungsartikel bemerkt ein Berater der interviewten Institution sieben Jahre später: „Aids – das sind zwei Krankheiten. Die eine befällt das Immunsystem und führt zu lebensgefährlichen Infektionen; die andere befällt die Gesellschaft und führt zu Hysterie und Diskriminierung. So beschreibt Vera Wiehe den ‘Slogan der ersten Jahre’ Aids-Hilfe nicht nur als Kampf gegen das eine Übel, sondern gleichzeitig auch gegen Diskriminierung und Repression, um Akzeptanz und Verbesserung der Lebensbedingungen von Schwulen und Drogenabhängigen: ein konzeptioneller Ausgangspunkt, der bis heute Gültigkeit hat für die Aids-Hilfe, die am Wochenende ihr 10-Jähriges feierte.“ (Ebd., S. 71)
Was zu diesem Zeitpunkt noch immer ungenügend gesehen wird, ist, dass sich auch im eigenen Beraterverhalten die Angst vor dem geschwächten Immunsystem wiederholt. Die Klienten der ‘Aids-Hilfe’ werden häufig auch als Diskriminierer erlebt, sie sind aggressiv wie der Aidsvirus. Die Institution schützt sich durch Minimierung des Kontakts mit ‘Gesunden’ und sie geht davon aus, dass hierdurch auch die Gesunden weniger gefährdet sind.
 
1 Andree Grote: Die Nutzung von Spiegelungsphänomenen in der kommunikativen Sozialforschung – Eine Fallstudie in einer AIDS-Beratung. Magisterarbeit an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. 1998, S. 50.
 
Sinn und Strategien spiegelungstheoretischer Untersuchungen