Vom Zweier- zum Gruppengespräch

 

 

"Wenn in den letzten einhundert Jahren vom ‚Gespräch' die Rede war, dann stellte sich das Bild der Interaktion von zwei Personen von Angesicht zu Angesicht ein. Als Prototyp gilt jene Gesprächssituation, die von jeglicher Arbeit, allen instrumentellen Handlungen entlastet ist. Man tauscht seine Gedanken mit Worten in geordneter Wechselrede aus. Erfolgreich verlief das Gespräch, wenn die beteiligten Personen mindestens verstanden haben, was der andere mit seinen Beiträgen meint. Dies gelingt angeblich im Alltag am besten, wenn die beiden Gesprächspartner einen ähnlichen Status besitzen und ähnliche Zwecke verfolgen.

Letztlich steht hinter diesem Verständnis von Gespräch das Modell einfacher Interaktionssysteme. (Vgl. Modul 08 Soziale Kommunikation) Kommunikation erscheint als wechselseitiges Verstehen zweier psychischer Systeme nach dem Mechanismus des turn- taking Modells[1]. Dieses Modell finden wir am Beginn der abendländischen Philosophie in den von Platon überlieferten Dialogen des Sokrates. Eine transzendentale Überhöhung findet es im christlichen Gebet als Zwiesprache zwischen Mensch und Gott. Diese Form des Gesprächs bestimmt das Theater und nimmt auch in der Literatur der Neuzeit breiten Raum ein.

Noch wenn gegenwärtig eine Alternative zu den einseitigen Kommunikationsformen der Massenmedien gesucht wird, taucht immer wieder diese Form des 'Dialogs' als Vorbild auf. Vilem Flusser etwa bezeichnet diesen Typus der face-to-face Kommunikation als besonders 'wertvolle Kommunikationsart'[2]. Konstitutiv erscheint ihm die Rückkopplungsmöglichkeit, die Unabhängigkeit der Gesprächspartner voneinander und die 'Absichtslosigkeit des Dialogs'. Diese Charakteristika bringen den Dialog in Gegensatz zu den Diskursen der Institutionen, die 'zielführend' sind und auf die Überzeugung, bzw. Unterwerfung des anderen als Bedingung ihres Erfolgs hinauslaufen. Die Rückkopplung unterscheidet den Dialog von den Monologen der Massenmedien.

Obwohl diese Form des 'dialogischen' Gesprächs natürlich in unserem Alltag vielfach vorkommt und immer für zahlreiche Zwecke seine Bedeutung behalten wird, eignet es sich m. E. nicht als Vorbild für das Informationszeitalter. Es reduziert zuviel Komplexität, erscheint mir eher als die Minimal- denn als die Optimalform multimedialer sozialer Informationsverarbeitung. Das Gespräch, das zur Steuerung der Informationsgesellschaft mit all ihren technischen Medien und den vielen Subsystemen und Sinnwelten notwendig ist, muss die Grenzen einfacher Interaktion überschreiten und als Gruppengespräch geführt werden. Diese Idee ist nicht neu. Vor allem Kurt Lewin hat in den 40er Jahren das Gruppengespräch als Möglichkeit der Lösung sozialer Konflikte und des Erkenntnisgewinns propagiert[3]. Die auf seinen Gedanken und auf jenen von Jakob L. Moreno fußende gruppendynamische Bewegung hat in den letzten vierzig Jahren große Erfahrungen über die Funktionsweise von Gruppengesprächen gesammelt und zahlreiche Instrumente ihrer Organisation und Selbstorganisation beschrieben.[4]

Komplexe Mehrpersonengespräche lassen sich nicht mehr zureichend als Interaktionssysteme begreifen. Zwar nutzen sie das System der binären Schematisierung der Rollen (Sprecher/Hörer) und der Aktivitäten (sprechen/zuhören) als grundlegendes Steuerungsprogramm, aber daneben wird das Gruppengeschehen von den Beteiligten auch als ein Marktplatz für ihre Meinungen angesehen und dann wieder zeitweise straff hierarchisch organisiert. Wenn ich hier von dem Gespräch in der Informationsgesellschaft rede, dann meine ich ein komplexes Ökosystem, in dem die drei Hauptsteuerungsprogramme genutzt werden. Nur wenn dies der Fall ist, kann das Gespräch zu einem Mikrokosmos des Makrokosmos Kultur werden. Und nur wenn sich die Kultur und/oder andere Organisationen in dem Gruppengespräch spiegeln, kann dieses zu einem Medium der Selbstreflexion von Kulturen bzw. Organisationen werden.

Wir halten also fest: Das Gruppengespräch kann nicht zureichend als einfaches Interaktionssystem beschrieben werden, sondern es funktioniert auch nach Marktmechanismen und bedient sich hierarchischer Steuerungsformen.

Man muss sich darüber im klaren sein, dass jede Prämierung eines bestimmten Gesprächstyps Einfluss auf die kommunikative Systembildung in der Informationsgesellschaft nimmt. Wie Prämierungen auf anderen Gebieten auch, sind sie ein politisches Steuerungsinstrument. Die Interessen, die hinter solchen Führungsstrategien stehen, sollten deutlich artikuliert werden. Ich bevorzuge das Gruppengespräch zunächst einmal, um es aus seiner historischen Diskriminierung gegenüber dem Zweiergespräch zu befreien. Es haben sich in den Industrienationen der Neuzeit Disproportionen im Einsatz und in der Wertschätzung von Zweier- und Gruppengespräch entwickelt, die es auszugleichen gilt. Zum anderen steht die Gruppe in der Mitte zwischen der Gesellschaft und der Massenkommunikation einerseits und dem Individuum und Zweiergespräch andererseits. Sie kann deshalb zwischen den beiden Extremen: maximale Öffentlichkeit und Sozialität einerseits, Individualität und soziale Intimität andererseits vermitteln. Sie kann die Extreme in Kontakt bringen, weil sie jedem einzelnen sowohl die Möglichkeit lässt, sich zurückzuziehen, sich zu individuieren, als auch soziales Engagement erlaubt.

Die Notwendigkeit von Arbeitsgruppengesprächen für die Entwicklung moderner Wirtschaftsunternehmen wird in der Managementliteratur in der letzten Zeit häufig betont und sie ist auch aus empirischen Analysen, wie beispielsweise der eindrucksvollen Studie von Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi, ableitbar.[5] "Wissensschaffung im Unternehmen ist also nicht möglich ohne Einzelinitiative und Interaktion innerhalb einer Gruppe" resümieren die Autoren. "Auf Gruppenebene kann sich Wissen durch Dialog, Diskussion, Erfahrungsaustausch und Beobachtung verstärken oder herauskristallisieren." (Ebd., S. 24) Während die Stärken herkömmlicher bürokratischer Kommunikationsformen eher in der Akkumulation und Systematisierung von Wissen ("Kombination") sowie in der Weiterverarbeitung von ausgearbeiteten Kenntnissen ("Internalisierung") gesehen werden, können in den Gruppengesprächen implizite Informationen kreativ ausgenutzt ("Sozialisation") und neue Modelle geschaffen und verbreitet ("Externalisierung") werden. (Ebd. S. 183/4) Letztlich führt nur die "Synthese beider Ansätze" zu einer "soliden Grundlage für die Wissensschaffung" in Unternehmen und natürlich auch in anderen größeren Organisationen. (a.a.O.)

Die Duplizierung des Wissens eines Gesprächspartners bei den anderen bleibt natürlich auch ein Kooperationsziel und man wird diesen Gesprächstyp brauchen, solange sich Gesellschaften reproduzieren wollen. Aber es ist kaum notwendig, die Aufmerksamkeit auf diese Gesprächsform zu lenken, weil sie in der Buchkultur bis zur Perfektion entwickelt und offenbar in mehr Bereichen als erforderlich eingesetzt wurde und wird.

Eine weitere Vorstellung, die für das Gespräch in der Industriekultur üblich war und die besser nicht als Programm mit in das Informationszeitalter hinübergenommen werden sollte, ist jene der Entkoppelung des Gesprächs aus den sozialen Handlungszusammenhängen. Alle Kommunikation braucht eine Aufgabe und jegliche soziale Kommunikation erfüllt Funktionen entweder für die beteiligten Personen oder für andere soziale Systeme.

Das Gespräch im Informationszeitalter wird sich dadurch auszeichnen, dass es diese Funktionen selbstreflexiv erkennt und klar benennt. Die weitere Strukturierung wird im hohen Maße von den unterschiedlichen Kooperationszielen abhängen. Das Gespräch, dessen Ziel die Koordination des instrumentellen Handelns einer Montagegruppe ist, muss ebenso gefördert werden, wie Teambesprechungen, in denen es um Entscheidungsprozesse geht oder ein Brainstorming zur Ideensammlung in welcher Institution auch immer. Wie das Gespräch als ‚themenzentrierte Interaktion' zugestalten ist, dazu hat Ruth Cohn beispielsweise eine Reihe von Vorschlägen gemacht. [6]

Neben der Vernachlässigung der funktionalen Einbettungen und des Themenbezugs ist die nächst auffällige Idealisierung des Gesprächs, die es zu überwinden gilt, die Vernachlässigung des Beziehungsaspekts. Jedes Gespräch erfordert die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Sozialbeziehung, die Regulation von Nähe und Distanz. Themenbezug und Beziehungsklärung müssen in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden[7]. Je nach den Kontexten wird sich dabei die Waage mal nach der einen, mal nach der anderen Seite neigen. Rein formal gesehen verlangt die Berücksichtigung des Interaktionsaspekts Zeit, mehr Zeit als die rein aufgabenbezogene Schwundform des Gesprächs benötigt.

Die Berücksichtigung des Interaktionsaspekts führt darüber hinaus zu der Einsicht, dass nicht jeder mit jedem, bzw. jede mit jeder/jedem sprechen kann und das ganz allgemein die Bildung von größeren Gesprächssystemen ein längeres ‚warming up' benötigt, um überhaupt mit der thematischen Arbeit beginnen zu können. Das ideale Gespräch, wie es die Buchkultur propagierte, konnte praktisch voraussetzungslos zu jeder Zeit ad hoc beginnen. Die Gesprächsteilnehmer brauchten sich nicht kennenzulernen, es war keine gemeinsame Geschichte erforderlich. Natürlich weiß jeder aus Erfahrung, dass genau diese Annahme immer wieder zum Scheitern von Kommunikationssystemen führt. Gruppengespräche besitzen eine historische Dimension und man kann sie nur in seltenen Fällen ungestraft vernachlässigen. Die immer wieder geforderte 'Gleichheit' der Gesprächspartner muss, wenn sie denn überhaupt nötig ist, zumeist erst hergestellt werden. Und sie wird immer nur in Bezug auf bestimmte Themen/Aufgaben hergestellt.


aus: Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt a.M. 2002
 
[1] Vgl. Giesecke/Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung 1997, S. 108 - 115
[2] In: Polemik oder Dialog. Vom unterentwickelten Leben. In: ders.: Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design. Mannheim 1996, S. 24-28, hier S. 26. Vgl. auch ebd. S. 62 und 115.
[3] Vgl. z. B. Kurt Lewin: Die Lösung sozialer Konflikte - Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik (hrsg. von Gertrud Weiß Lewin) Bad Nauheim 1953/63/68 zuerst New York 1948
[4] Vgl. z. B. J. Levy. Moreno: Psychodrama und Soziometrie. Essentielle Schriften (hrsg. von Jonathan Fox) Köln 1989, zuerst New York 1987
[5] Die Organisation des Wissens: wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Ffm. 1997 (engl. 1995)
[6] Vgl. Ruth Cohn: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Stuttgart 1975
[7] Wie die Vertreter der 'themenzentrierten Interaktion' noch hinzufügen würden, müssen auch die Interessen der beteiligten Individuen mit in den Balanceakt einbezogen werden.