![]() |
Mankind Vision - Menschheit als gefährdete Gattung (Dreitzel) |
|
Aus: Hans Peter Dreitzel: Emotionales Gewahrsein, München
1998, S. 279, 280, 281 Es gibt eine neue Gewißheit, die freilich
erst sehr langsam ins Bewußtsein dringt die Gewißheit, daß die
Menschheit als Ganzes und nicht nur der einzelne Mensch sterblich ist.
Diese Einsicht beruht auf einem qualitativen Sprung in der Geschichte
der Menschheit, dessen Zeuge wir sind. Die Menschheit ist dabei, in eine
gänzlich andersartige Phase ihrer Entwicklung einzutreten, die durch die
folgenden fünf Tatbestände bestimmt sein wird: |
1. | Die Menschheit ist als Gattung suizidfähig geworden, seit es möglich ist, den gesamten Erdball in einem atomaren Winter versinken zu lassen |
2. | damit ist die Menschheit irreversibel zu einem Ganzen geworden. Die Entwicklung der Kommunikationsmedien und der Verkehrsmittel ist dazu nur notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung gewesen |
3. | die menschliche Zivilisation kann allein schon durch einen Unfall der atomaren Kriegsmaschinerie oder eine Serie atomarer Zivilunfälle ausgelöscht werden |
4. | die Menschheit kann durch die bloße Art und Weise ihrer Existenz sich selbst und vielen anderen Arten die Lebensgrundlagen zerstören; sie ist fähig, an ihrem eigenen Lebensstil zu erkranken |
5. | in der Computertechnologie und in der Gentechnologie werden zur Zeit die ersten Schritte auf einem Weg getan, an dessen Ende in relativ naher Zukunft der Mensch möglicherweise die Fähigkeit erlangt haben wird, sich biologisch und maschinell selbst zu transzendieren. |
Nichts könnte einem das uns gegebene Verhältnis von Macht und Ohnmacht klarer vor Augen führen als die Möglichkeit, an sich selber Hand anzulegen. Die Macht, uns den Tod zu geben, ist die Ohnmacht, diese Tat nicht widerrufen zu können. Das legt dann die Vermutung nahe, möglicherweise auch ohne eigenes Dazutun sterblich zu sein. Ich möchte kurz zwei Gedankengänge hier anknüpfen. Der erste stammt noch einmal von Robert Jay Lifton, der darauf aufmerksam macht, daß die Möglichkeit der Menschheit, sich selbst und ihre Lebensgrundlagen zu vernichten, auch Auswirkungen auf das hat, was er die ihr zur Verfügung stehenden Unsterblichkeitserfahrungen nennt, innere Standards, die für die Bedeutung, die wir unserem Leben und unseren Beziehungen beimessen, eine beständige Hintergrundwirkung ausüben, auch wenn sie gewöhnlich außerhalb des Gewahrseins bleiben. Lifton hat fünf historische Erfahrungsmöglichkeiten unterschieden, mit denen Menschen die Verbindung zwischen sich und der Gattung herstellen konnten. Zum ersten natürlich die religiösen Unsterblichkeitsideen, ob als Auferstehungs- oder Wiedergeburtsglaube; zweitens der Gedanke, mit oder in den eigenen Töchtern und Söhnen weiterzuleben als Teil einer endlosen Kette biologischer Verknüpfungen; zum dritten die Idee, in den eigenen Werken fortzuleben, die Vorstellung, daß der eigene Beitrag zur menschlichen Kultur zwar nicht ewige, aber doch etwas dauerhaftere Teilhabe an der Geschichte der Gattung gewährleistet als das rasch verfließende Einzelleben ars longa, vita brevis; viertens die Vorstellung, in der Natur selbst als Bestandteil ihrer Elemente zu überleben und damit zugleich Nährboden künftiger Generationen zu sein, und fünftens die echte mystische Erfahrung, in der Zeit und Tod zugleich verschwinden und die Lifton als experiential transcendence bezeichnet. Und nun stellt sich die Frage, was der möglich gewordene Suizid der Menschheit diesen Erfahrungsmöglichkeiten antut? Wie können wir uns auch nur ein spirituelles Fortleben auf einem Planeten vorstellen, dessen Bedingungen überhaupt kein oder nur noch mikroskopisches Leben ermöglicht? Wenn Lifton recht hat, sind alle Jenseitserfahrungen außer der mystischen auf ein Diesseits des Fortlebens unserer Gattung und unserer Biosphäre gegründet. Sicher ist jedenfalls, daß sich in der Kultur einer Menschheit, die sich ihrer Sterblichkeit bewußt geworden ist, nichts mehr auf die Kinder verschieben läßt nicht das eigene Überleben und nicht die ungelebten Lebenschancen und die unerfüllten Lebenswünsche. Unsere Kinder werden es höchstwahrscheinlich nicht besser haben. Vielmehr werden spätestens unsere Kinder für alles zahlen, was wir heute tun und unterlassen. |