Excerpt Kulturentwicklung als Zunahme selbstreflexiver Informationsverarbeitung

 

 
"Meine eigene Hypothese nun ist, daß das gegenwärtige Stadium des Zivilisationsprozesses am besten als das Entstehen eines reflexiven Naturverhältnisses begriffen werden kann. Was an der heutigen Kultur neu ist, ist der reflexive Gebrauch des Körpers, der Gefühle, der äußeren Natur und, allgemeiner, der realitätskonstruierenden Tätigkeiten in Interaktionen. Und damit ist beides gemeint, eine reflektierende Haltung, die bewußt die Qualität, die Intensität und paradoxerweise sogar den Grad der Spontaneität im Ausdruck körperlicher und emotionaler Bedürfnisse wählt, wie auch die eigene Selbstreflexivität solcher Ausdrucksformen. Diese Hypothese ermöglicht es, scheinbar so unterschiedliche Phänomene unserer Kultur zu erklären wie die Entritualisierung des Alltagslebens, die veränderten Einstellungen gegenüber Nacktheit und Sexualität, die ökologischen Bewegungen, die neue politische Bedeutung von Naturkategorien wie Rasse und Region, Geschlecht und sexuelle Neigung, die Verbreitung körperbezogener und gefühlsbetonender Psychotherapien, das neue Interesse an einer Thanatologie, die Suche nach authentischer religiöser Erfahrung, die experimentelle Einstellung gegenüber esoterischen Erfahrungen und, allgemeiner, das Angebot unterschiedlicher Weltsichten und situationsspezifischer Erfahrungen alternativer Wirklichkeitsdimensionen. Der gemeinsame Nenner all dieser Phänomene ist die neue Bedeutung einer reflexiven Haltung gegenüber der Natur unserer Körperlichkeit und der Natur unserer Umgebung."

In: Hans Peter Dreitzel: Emotionales Gewahrsein, München 1998, S. 35
Vgl. a. David Bohm: "We could say that practically all the problems of the human race are due to the fact that thought is not proprioceptive." (On Dialogue, New York/London 1996, p. 25)
Fliesstext: Gespräche als Medium der Selbstreflexion von Menschen und Kulturen