![]() |
Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus |
|
"Am Ende siegt die Komplexität. Die Menschen haben sich in vielen Entwicklungsstufen eine imponierende Vielfalt von Kommunikationsformen und Kommunikationsinstrumenten geschaffen. Sie wären töricht, in der Zukunft diese Arbeitsvielfalt zu zerstören. Irgendwann einmal hatten sie nur den persönlichen Kontakt, der in einer gewaltigen Kulturleistung schließlich zu einem differenzierten Gespräch entwickelt wurde. Inzwischen haben sie die unterschiedlichsten Telemedien zur Überwindung von Raum und Zeit - und immer noch die Face-to-face-Kommunikation als höchste Form zwischenmenschlicher Verständigung. Was für einen Sinn sollte es machen, den Medienmix, die unterschiedlichen Medien und Kommunikationstechniken gegeneinander auszuspielen? Medienökologie und Öko-Kitsch Neuerdings ist viel von 'Medienökologie' die Rede. Ein solcher Denkansatz müsste gerade die Artenvielfalt der Kommunikation verteidigen. In Wirklichkeit hat sich die antitechnische Kulturkritik des Ökologiebegriffs bemächtigt und produziert Öko-Kitsch. 'Künstlichkeit' - die Chance, zwischen Menschen einen Anrufbeantworter als Verzögerer zu installieren, oder die Vermeidung aufdringlicher Hautnähe durch die Briefform oder E-Mail - ist eine Errungenschaft der Kultur, kein Verfall. Geschwindigkeit kann herrlich (und im übrigen höchst nützlich) sein. Der Faszinationskraft von technischen Bildern muss nur misstrauen, wer in Angst vor den Untiefen der eigenen Gefühlswelt lebt. Es ist roh und täppisch, die kunstvolle Vielstufigkeit technisch gestützter Kommunikation auf das archaische Ich-Du zu versimpeln und die Face-to-face-Kommunikation gegen technisch gestützte Kommunikation auszuspielen. Natürlich gibt es immer und überall pathologische Vereinseitigungen: netzsüchtige Spieler, lesefeindliche Dauerglotzer, ruhelose Handyterroristen, Videoten. Kommunikationskultur verlangt die Einstellung auf die je gegebene kommunikative Grundsituation. Gelegentlich sind Strategien der Verlangsamung, Personalisierung, Disziplinierung (oder im Gegenteil: Emotionalisierung) dringend geboten. Aber es ist jünglingshaft, jedes Verkaufsgespräch, jeden Klatsch, jeden emotionalen Austausch abzuwerten, weil Goethe und die Stein, Zuckmayer und Karl Barth und wer sonst noch große Momente der Existenzerhellung in der Sinnkommunikation hatten. Das gängige medienökologische Plädoyer für die 'Natur' und gegen die 'Plastikwelt' endet bei der Innerlichkeit jener Deutschlehrertruppe, die das berühmte - von Diederich Diederichsen entdeckte - Lied singt: 'Die Amis haben uns unseren Hölderlin/Bratwurst weggenommen und durch Negermusik und Hamburger ersetzt.' Ein leiernder Ohrwurm, kitschig und glitschig." |
Aus: Peter Glotz: Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München 1999, S. 85-87 |