Theoriefaden Paradoxe Funktionen von Mythen

 

 

Die kulturelle Funktion der Mythen ist paradox: Einerseits liefern sie Entscheidungskriterien für kulturelles Handeln und Erleben durch Wertsetzung, Prämierung, Hierarchisierung etc. Sie wirken insoweit als Interdependenzunterbrecher. Andererseits beruht ihre grundlegende Wirksamkeit, ihre Überlegenheit gegenüber Gesetzen und anderen Normen gerade auf ihrer Polyvalenz und Unbestimmtheit. Kulturelle Grundannahmen, also Glaubenssätze, die hinter den vielen, mehr oder weniger manifesten Programmen stehen, die unser alltägliches Miteinander ordnen, müssen allgemein und damit auch widersprüchlich zu deuten sein. Andererseits müssen sie auch so konkret sein, dass sie immer wieder ähnliche Orientierungen ermöglichen. Ansonsten stiften sie keine Identität.

Auch die Genese der Mythen ist paradox. Einerseits entstehen sie durch Missachtung von Ambivalenzen der Medien, durch Prämierung einer Dimension in der Bedeutungsvielfalt. Dies geschieht vor allem durch symbolische Verstärkung latenter Bedeutungen. Andererseits beruht ihre spezifische Macht auf Unterbestimmtheit. Verlieren sie ihre Polyvalenz, können sie zum einen zu Wahrheiten oder Gesetzen werden. Sie haben dann keine latente Wirkung mehr und werden im argumentativen Diskurs 'entmystifiziert'. Oder sie werden zu selbstverständlichen Normen kulturellen Handelns, verbindlich, aber ohne symbolische Dopplung und/oder rituelle Feier. Ihnen geht im alltäglichen Einerlei die Aura verloren.

Solche Veränderungen von Mythen - und von Normen und Gesetzen - gehören zum Normalfall der Kulturgeschichte. Sie können auch gewollt sein. Polyvalente Visionen lassen sich beispielsweise als Vorstufe von Mythen begreifen. Wenn sie sich durchsetzen und zu nicht mehr länger hinterfragten Programmen kulturellen Handelns und Erlebens werden, können sie wie Mythen wirken.

Fliesstext: Mythen