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05 Verarbeiten |
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Auf dem Weg zu einer Psychologie
der Leidenschaften Peter Kutter: Liebe, Haß, Neid, Eifersucht. Eine Psychoanalyse der Leidenschaften. Göttingen und Zürich 1994) |
Wir lernen in der Schule lesen, rechnen und schreiben und in den höheren Schulen Mathematik, Biologie, Sprachen und Sozialkunde, nicht aber Psychologie. Die Art unseres Lernens ist daher kognitiv, das heißt auf vernunftmäßiges Erkennen bezogen, nicht affektiv. In diesem Buch geht es aber nicht nur um kognitives Lernen über Leidenschaften, sondern um "emotionales" Lernen, also um Lernen mit Gefühl, was immer zugleich auch "soziales" Lernen ist, das heißt Lernen in Beziehung auf andere hin. Wie ich schon im ersten Kapitel ausführte, bemühen wir uns hierbei nicht nur um Sachbildung und Sozialbildung, sondern um Affektbildung, um Herzensbildung. Dabei besteht freilich die Gefahr, dass wir unser Thema zerreden. Wenn es das Ziel der Reihe "Stufen des Lebens" ist, theoretisch Einsicht in Grundmuster seelischen Verhaltens zu vermitteln und praktisch Hilfen für die Bewältigung von Daseinsproblemen zu geben, dann kann dies nicht nur rein denkend geschehen. Denken, Sprechen und natürlich auch Schreiben und - Lesen sind immer von Gefühlen begleitet: Wenn Sie jetzt dieses Buch lesen, fühlen Sie sich von den hier ausgebreiteten Themen angesprochen oder nicht. Sie werden angeregt oder zur Ablehnung herausgefordert. Werden Sie wirklich angesprochen von dem, was ich hier geschrieben habe, dann kommen wir unserem Ziel eines emotionalen Lernens wesentlich näher. Formal betrachtet geht es also um ein Lernen, das Gefühle und Leidenschaften einschließt; um die Wiedereinbeziehung von Gefühl und Leidenschaft in eine wissenschaftliche Abhandlung. |
Dies ist nicht selbstverständlich. Selbst die Psychologie ist als Naturwissenschaft heute mehr Mathematik als eine "Seelenwissenschaft". Die Psychoanalyse, die als Analyse der Seele begann, ist wie Freud schon 1895 in seinen "Studien zur Hysterie" unmißverständlich sagte, ein Verfahren, das "die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken" und den begleitenden Affekt wachzurufen" zum Ziel hat, denn "affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos". Nicht nur unter dem naturwissenschaftlich orientierten Einfluß der sogenannten Ich-Psychologie, sondern auch in der Folge sozialwissenschaftlicher Beiträge der "kritischen Theorie" und ihrer Epigonen verlor die Psychoanalyse diese Ziele ihres Gründers aus den Augen. Psychoanalyse wurde zu einer rationalistischen Ich-Psychologie, zu einer reinen "Interaktionstheorie", in der Erinnerung nur sprachlich aufgearbeitet wird. Die innerhalb der psychoanalytischen Theorie und Praxis entstandene emotionale Lücke begannen dann einzelne sogenannte "neue" Therapien wie zum Beispiel die "Urschrei-Therapie" Arthur Janovs, die "Gestalttherapie". Fritz Pearls oder die "Gesprächspsychotherapie" Carl Rogers auszufüllen. |
Mit diesem Buch über die menschlichen Leidenschaften wird unter anderem auch versucht, diese Versäumnisse der Psychoanalyse aufzuholen, um die verlorengegangene Leidenschaftlichkeit der Psychoanalyse zu suchen, zu finden und wieder in ihr System einzufügen. Ich setze mich dabei freilich dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aus. Dies wird mich aber nicht beirren, alles mir mögliche zu tun, um dem Leser in den weiteren Kapiteln dieses Buches das heikle Thema der menschlichen Leidenschaften zu vermitteln. Ich werde mich dabei um Verständlichkeit, Lebensnähe und einen ständigen Bezug zum Alltag bemühen und dennoch versuchen, auch wissenschaftlich verlässliche Informationen zu liefern - in Richtung auf eine Theorie der Leidenschaft, die uns helfen kann, zu einem besseren Verständnis von therapeutischer Praxis zu gelangen. Dazu brauchen wir bei einem Gegenstand, der unweigerlich eigene Gefühle berührt, klare Definitionen. Es wird also keinem Irrationalismus oder Mystizismus das Wort geredet. Es wird auch kein neuer "Sensualismus" angestrebt, in dem alle Erkenntnis nur auf sinnlicher Wahrnehmung beruht; auch nicht ein zügelloser "Hedonismus", eine Lehre der Lust, in der Genuss das höchste Gut des Lebens ist. |
Wir brauchen nüchternes Denken, Vernunft als bewusst gebrauchten Verstand, um bei einem derart heißen Thema, wie die menschlichen Leidenschaften es sind, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Gefahr aber, dass die Herrschaft der Vernunft zuviel Leidenschaftlichkeit unterdrückt, ist meines Erachtens größer als die, dass die Leidenschaft die Vernunft übermannt. Den gefühllosen Menschen, der kühl und berechnend seine Aufgabe in der heutigen komplizierten Welt er füllt, der gut funktioniert und als gesellschaftlich erwünschter "Sozialcharakter" gilt, haben wir im ersten Kapitel, "Mensch ohne Leidenschaft" schon kennen gelernt. Dieser Mensch bezahlt seine Gefühllosigkeit bestenfalls mit innerer Leere oder schlimmstenfalls mit neurotischer, psychosomatischer oder gar psychotischer Erkrankung. In diesen Formen von Krankheit sind die nicht gelebten Gefühle gleichsam gebunden und unterdrückt. Ein derart kranker Mensch setzt sich freilich der Gefahr des psychotischen Durchbruchs aus, wenn sich die unterdrückten Kräfte unkontrolliert "entäußern" und der Mensch somit "außer sich" gerät. Wenn es nicht zu derartigen Ausbrüchen kommt, dann sind es die an deren, die unter dem gefühllosen Wesen des ausschließlich durch Verstand gesteuerten, kühl berechnenden Menschen zu leiden haben. |
Wir kennen aber auch den gefühlvollen Menschen. Wir verstehen darunter meist etwas abwertend einen übertrieben gefühlsbetonten Menschen, der sich seinen Gefühlen voll hingibt, meist auf Kosten des Verstandes. Noch heute sehen wir unreflektiert besonders die Frau als gefühlsgesteuert an, während der Mann von Vernunft geprägt sei. Dies geht selbst aus Definitionen der Psychoanalyse hervor, wenn zum Beispiel "gefühlvoll" und "weiblich" ebenso gleichgesetzt werden wie "passiv" und "feminin". Der abwehrende Akzent gegenüber Gefühl und Leidenschaft kommt dann besonders zum Ausdruck, wenn wir, ohne es zu bedenken, alles Gefühl als "Gefühlsduselei" abtun. So hörte ich, dass sich junge Menschen über die heftigen und gefühlvollen Auseinandersetzungen zwischen Marianne und Johann in Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" lustig machen und deren Affekte als Relikte aus längst vergangenen Zeiten ansehen. Demgegenüber möchte ich versuchen, die Welt der Gefühle wiederzuentdecken, weil ich der Meinung bin, dass Gefühllosigkeit eher schadet als "Gefühlshaftigkeit". Mit dieser Wortneubildung will ich den negativen Beiklang von Gefühlsseligkeit mit seinem Hingegebensein und Schwelgen im Gefühl bewusst vermeiden, einen Zustand, in dem der Mensch sich total dem Gefühl hingegeben hat, etwa beim Hören von Musik. |
Schon die Sprache zeigt uns, wie differenziert das Leben mit Gefühlen sein kann: Wir empfinden Gefühle der Freude, wenn wir einen lieben Menschen treffen. Wir spüren Gefühle des Hasses gegenüber jemand, der uns im Wege steht. Wir überlassen uns einem Gefühl, lassen ihm freien Lauf, geben uns ihm hin - passiv. Wir bringen einem anderen aber auch - aktiv - freundschaftliche Gefühle entgegen. Wir empfinden warme, innige Gefühle gegenüber jemandem, etwa solche der Dankbarkeit. Wir hegen zärtliche Gefühle gegenüber einem Mitmenschen. Dieser andere kann unsere Gefühle erwidern oder nicht. Erwidert er sie, dann ist das für uns "das höchste der Gefühle". Gefühl betrifft aber nicht nur die Beziehung zwischen Menschen, die zwischenmenschliche Beziehung. Man singt "mit Gefühl", macht die Arbeit "nach Gefühl", betrachtet etwas "mit gemischten Gefühlen" und sagt, zum Beispiel angesichts einer schwierigen handwerklichen Aufgabe: "Das ist Gefühlssache." Wir zeigen, etwa im Betrachten eines Kunstgegenstandes, eines Bildes oder einer Plastik, einen bestimmten Gefühlsausdruck. Das künstlerische Objekt wirkt auf uns als äußerer Reiz, und das heißt immer, sofern wir nicht ganz gefühllos sind: Reiz auf unser Gefühlsleben. Das Objekt läßt uns nicht kalt. |
Die Psychologie spricht von Gefühl als Erlebnis und sagt im übrigen: Die Frage, was Gefühl sei, ist bis heute aktuell und unbeantwortet. So steht es im Handbuch der Psychologie (Band 2, Göttingen 1965) in dem Beitrag "Gefühle und Stimmungen" von Otto Ewert. Es gibt natürlich interessante Theorien über Gefühle, sie würden uns von unserem eigentlichen Thema, dem Gefühlserleben und der Leidenschaftlichkeit, nur wegführen und uns nicht helfen, ihm näher zukommen. Soviel aber kann gesagt werden: Gefühle beziehen sich stets auf Objekte; auf Menschen, aber auch etwa auf Tiere oder die Natur. Sie hängen mit bestimmten sozialen Situationen zusammen. Insofern sind Gefühle ein soziales Phänomen. Sie beziehen sich also immer auf einen anderen, sei es im positiven Sinne der Zuwendung wie im Gefühl der Liebe, sei es im negativen der Abwendung wie beim Hass oder in der Verachtung. In der Eigenliebe und im Selbsthass beziehen sie sich natürlich auf die eigene Person. Gefühle haben immer auch mit Vorstellungen zu tun, mit einer Fülle von Vorstellungen, mit Phantasien: Die Vorstellung der geliebten Person weckt in uns Gefühle der Liebe, die des Gegners solche der Feindseligkeit und des Abscheus. Das, was im Gefühl mit uns vorgeht, ist also etwas Abgeleitetes, Sekundäres. Das Primäre ist die lebendige Vorstellung, das Sekundäre das die Vorstellung umhüllende Gefühl. Was als Gefühl in uns aufsteigt, wird seit alters in den großen Gegensätzen Lust und Unlust gesehen. Freudvolle Gefühle stehen leidvollen gegenüber. Früher unterschied man noch - durch aus wertend "niedere sinnliche" von "höheren ideellen" Gefühlen wie zum Beispiel intellektuellen, ästhetischen, moralischen oder religiösen Gefühlen. Dabei betreffen die sinnlichen Gefühle die fünf Sinne: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten. |
Für Theodor Lipps (Wiesbaden 1901) ist Gefühl das Primäre, Unmittelbare: "dasjenige, worin ich mich unmittelbar und ursprünglich finde, worin ich mich fühle". Damit sind Gefühle eng mit dem verbunden, was wir selbst sind, also Selbstgefühl. So wie der Mensch ein Selbstbewußtsein hat, so hat er auch ein Selbstgefühl, ein Gefühl von sich selbst. Unser Selbstbewußtsein wird, je nach unserer aktuellen Verfassung, von einem ganz bestimmten Gefühl erfüllt, davon gefärbt. Dieses Gefühl ist ausgesprochen subjektiv und unabhängig vom objektiv auslösenden Reiz beziehungsweise von der Art des Auslösers. So löst zum Beispiel ein und dieselbe Frau bei verschiedenen Männern jeweils ganz spezifische Gefühle aus. Der eine verliebt sich unsterblich in sie, der andere findet sie abstoßend, während wieder ein anderer keinerlei Gefühle empfindet. Das entstehende Gefühl wird von den gerade vor herrschenden Vorstellungen bestimmt. Sind diese von Gefühl durchsetzt, sprechen wir von gefühlsbetonten Vorstellungen. |
Nach Wilhelm Wundts "dreidimensionaler Gefühlstheorie" sind die gefühlsbetonten Vorstellungen nach Lust und Unlust, Erregung und Nichterregung sowie nach Spannung und Lösung definiert, als "unvergleichbares Prinzip", als "psychische Kausalität sui generis", das heißt als seelische Ursache an sich. |
Später haben die Psychologen die gefühlsmäßigen Reaktionen der Menschen experimentell untersucht und dabei bedeutende Einzelbefunde erhoben, die uns jedoch in unserem Zusammenhang keine sinnvollen Informationen in Richtung auf eine bessere Fähigkeit zu leben vermitteln und uns somit keinen Schritt weiterbringen. Der experimentelle Zugang verstellt uns vielmehr den Blick für das Ganze. Felix Krüger betont in seinem I928 in Leipzig erschienenen Buch über "Das Wesen der Gefühle, Entwurf einer systematischen Theorie" die "Ganzheit des Erlebens", seine "komplexe Qualität", und meint, dass "jede Zergliederung, jede Art der Analyse des Erlebnisganzen (diesem) abträglich" sei. Felix Krüger spricht von "Intensität", "Wucht und Tiefe" der Gefühle. Sie machen den "Farben- und Gestaltreichtum" unserer Erlebnisse aus. Gefühle sind "mütterlichen Ursprungs", "Nährboden aller Erlebnisarten" und in "ihrem Qualitätenreichtum, ihrer Universalität, Wandelbarkeit und Labilität nicht zu erfassen". |
Gefühle sind "Zustände der Seele", die in "Polaritäten" auf treten. Sie sind entweder primär seelische Elemente, die sich auf nichts anderes zurückführen lassen, entsprechend einer "Elementartheorie der Gefühle", oder sie werden sekundär von Reizen mitbestimmt, die von Vorstellungen abhängen. In diesem Sinne ließen sich Gefühle gemäß der sogenannten "Reduktionstheorie" auf etwas anderes zurückführen. Diese Alternative zu entscheiden ist in unserem Zusammenhang unwesentlich. Für jede Gefühlslehre betrachte ich aber folgenden Satz als ausschlaggebend: "Gefühle entstehen immer in Beziehung zu anderen Menschen". Das heißt, modern ausgedrückt: "in einem sozialen Kontext". Ein Gefühl ist stets, wie sich der russische Psychologe Rubinstein (Grundlagen der allgemeinen Psychologie, Berlin I973, S. 574) ausdrückt, eine "Stellungnahme zur Welt", das heißt zu "dem, was wir erfahren und tun, in Form unmittelbaren Erlebens, sowohl in Abhängigkeit von etwas als auch in einem Streben nach etwas". Unseren Gefühlen liegen also immer wechselseitige Beziehungen zwischen Menschen zugrunde. Das heißt: Gefühle sind zwar individuell subjektiv, dies aber nie losgelöst von der Umwelt; sie sind stets "soziale" Gefühle, also stets in einem zwischen menschlichen Gesamtzusammenhang zu verstehen. Obwohl wir Fühlen und Empfinden in der Umgangssprache oft synonym gebrauchen, möchte ich hier, um zusätzliche Verwirrung zu vermeiden, den Begriff "Empfindung" von dem des "Gefühls" abgrenzen. Empfindungen sind vor allem Sinneswahrnehmungen, also das, was wir, ausgelöst von äußeren Reizen, mit unseren Sinnen wahrnehmen. Wir hören den Donner, sehen den Blitz, riechen den Braten, schmecken die Säure des Weins, empfinden die Wärme und Berührung der Haut. Wenn wir auch von "schmerzlichen" oder von "tiefen" Empfindungen reden, empfehle ich im Interesse der Begriffsklarheit, den Begriff "Empfindung" auf Sinnesempfindung zu beschränken und alle seelischen Empfindungen, die nicht von einer Erregung der Sinne ausgehen, sondern von Vorstellungen, oder die spontan in uns entstehen, als "Gefühle" zu bezeichnen. |
Ehe wir uns unserem eigentlichen Thema, den menschlichen Leidenschaften, zuwenden, wollen wir noch klären, was die Psychologie unter Affekten versteht. Affekte sind eine besondere Gruppe von Gefühlen, ausgezeichnet durch zeitlich kurzen Ablauf, große Kraft und einen begleitenden physiologischen Erregungszustand. Im Gegensatz zu Gefühlen sind Affekte stets reaktiv. Etymologisch stammt das Wort Affekt von dem lateinischen Verb "afficire" ab und heißt wörtlich: etwas dazutun, es kommt etwas dazu. Affekte sind "vitale Antwortreaktionen", Abfuhrvorgänge, bei denen Spannung abreagiert wird. Es sind "abrupte Reaktionen mit hoher Intensität". Worauf? Auf bestimmte Erlebnisse, besonders auf bedrohende Erlebnisse. Jemand wird von anderen bloßgestellt, er fühlt sich gekränkt und reagiert mit Wut. Oder jemand wird von der Geliebten betrogen und reagiert mit einem wilden Zornesausbruch. |
Wir merken, dass wir damit schon in die Nähe der Leidenschaften gelangen, denn es handelt sich beim Affekt um intensiv erlebte Gefühle, um heftige Gefühlsbewegungen, verbunden mit einer gewissen Einschränkung der Kontrolle durch die Vernunft, der Kritik und Urteilsfähigkeit. Nicht von ungefähr sprechen wir von "unüberlegten Affekthandlungen", wenn uns die Wut überwältigt, wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun, oder wenn wir uns zu unbesonnenen Handlungen hinreißen lassen. Der psychiatrische Sachverständige vor Gericht versucht oft, kriminelle Handlungen wie Gewalttaten, einschließlich Mord, als solche Affekthandlungen zu bezeichnen. Läßt sich nämlich nachweisen oder wahrscheinlich machen, dass während der strafbaren Handlung das Bewußtsein aus Affekt eingeschränkt war, dann ist auch die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, eingeschränkt. Dem Täter wird unter diesen Umständen Zurechnungsunfähigkeit und damit Strafmilderung zugebilligt. |
Affekte sind also heftige Reaktionen auf äußere Reize; dabei im allgemeinen von kurzer Dauer, stoßartig. Sie können den Menschen in solcher Intensität packen, dass sein Bewußtsein zumindest vorübergehend eingeschränkt, eingeengt oder getrübt ist. Die intellektuellen Funktionen wie Denken, Erinnern, Wahrnehmen, Handeln sind beeinträchtigt. Affekte als heftige Gemütsbewegungen und Gefühlsausbrüche lassen keine ruhige Überlegung mehr aufkommen. Dabei sind die Affekte, wie die Gefühle, stets auf ein Objekt gerichtet. Jede Beziehung ist eine affektive Beziehung, innerhalb der wir uns über die Sprache der Affekte, das heißt über Affektäußerungen wie Weinen oder Schreien, verständigen; eine Sprache, die wir heute kaum noch verstehen, aber wieder lernen oder neu lernen können. Ihre mehr verborgenen Signale werden uns über Spannungen der Muskulatur, über die Körperhaltung, über Wärme oder Kälte, über Vibration, Klangfarbe und Ton fall der Sprache sowie über Resonanz und Hautkontakt vermittelt. |
Leidenschaften sind ebenso wie Affekte heftig und intensiv, aber nicht kurzdauernd, sondern lang anhaltend. Sie können, zeitlich gesehen, über Wochen und Monate, ja über Jahre den Menschen bewegen; mit anderen Worten: sein gesamtes Leben ausfüllen. Was die Definition der Affekte und Leidenschaften angeht, so sind die diesbezüglichen Ausführungen Immanuel Kants, des großen Philosophen des I8.Jahrhunderts, noch heute unübertroffen, so dass ich sie wörtlich zitieren möchte. Das Zitat stammt aus den "Schriften zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", erschienen in Königsberg im Jahre I798: "Der Affekt ist Überraschung, er ist übereilt, wächst geschwinde zu einem Grad, der die Überlegung unmöglich macht, er ist unbesonnen. Die Leidenschaft nimmt sich Zeit, um sich tief einzuwurzeln, ist überlegend, so heftig sie auch sein mag, um ihren Zweck zu erreichen. Der Affekt wirkt wie ein Wasser, das den Damm durchbricht; die Leidenschaft wie ein Strom, der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt. Der Affekt wirkt auf die Gesundheit wie ein Schlagfluß; die Leidenschaft wie eine Schwindsucht oder Auszehrung. Er (der Affekt) ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft aber wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift." Wenn wir Kants negative Bewertung der Leidenschaft auch nicht teilen, so wird aus dem Zitat doch deutlich, dass sowohl Affekte als auch Leiden schafften den Menschen in einem Ausmaß ergreifen, das sein bisheriges Gleichgewicht völlig verändert. |
Es ist ein qualitativer Sprung, der Gefühl in Leidenschaft verwandelt, gekennzeichnet durch einen höheren Grad von Ergriffenheit, verbunden mit einem Zurücktreten anderer Gefühle. Ein leidenschaftliches Gefühl erfüllt den Menschen, quantitativ gesehen, voll und ganz. Es ist getragen von bestimmten Vorstellungen oder Wünschen und wird unterhalten von einem Drang nach Erfüllung des Wunsches. Leidenschaft ergreift den ganzen Menschen mit Haut und Haar und ist ebenfalls, wie Gefühl und Affekt, stets auf ein Objekt bezogen: Leidenschaftliche Liebe zieht uns zum andern hin. Leidenschaftlicher Haß stößt uns von einem anderen Menschen ab. Leidenschaft ist immer sthenisch, das heißt kraftvoll, nie asthenisch, also schwach. Leidenschaft ist aufregend und erregend. Sie ist beständig und beharrlich, dabei stets konzentriert auf ihr Ziel, eine "Aktivität der Seele", wie sich Rubinstein ausdrückt. Damit ist freilich eine neuartige Definition von Leidenschaft gegeben, denn im allgemeinen Sprachgebrauch ist ja Leidenschaft etwas Passives, etwas, das uns passiv widerfährt. Ich erwähnte schon, dass Leidenschaft den Menschen ergreift, packt. Im Wort "Leidenschaft selbst drückt sich die Leideform aus. Auch im lateinischen "passim" bedeutet Leidenschaft "etwas erleiden". Wir überlassen uns aber dennoch nicht willenlos der Leidenschaft. Wir handeln viel mehr leidenschaftlich, wir sind leidenschaftlich |
Die Triebfedern der Leidenschaft sind freilich letztlich körperlicher Natur. Von dieser körperlichen Quelle her gesehen sind wir leidenschaftlichen Kräften gegenüber ausgeliefert. Es ist aber die Frage, ob wir uns diesen Kräften passiv überlassen, oder ob wir sie aktiv und autonom, also selbständig als Potential nützen; das heißt im einzelnen: in Denken, in Er kennen und in Handlungen umsetzen. |
Leidenschaften sind somit von Trieben gespeist, die, ihrerseits tief in der Persönlichkeit verankert, aus körperlichen Quellen stammen und "unbeugsam, unaufschiebbar, imperativ" (S. Freud, I933, S. I04) zu einer körperlich meßbaren Spannung führen, die periodisch anwachsen und ihr Ziel in der Entspannung suchen. Im Gegensatz zu den Trieben führen Leidenschaften aber gerade nicht zu Entspannung. Ein leidenschaftlicher Mensch bleibt stets in Spannung. Sein Sinnen und Trachten hält unvermindert an und läßt nicht nach. Seine Triebfedern bleiben gespannt. Die Leidenschaft charakterisiert die gesamte Persönlichkeit. Mit der psychoanalytischen Triebtheorie allein würden wir der Vielfalt und Komplexität menschlicher Leidenschaften nicht gerecht werden. Wir benötigen dazu eine umfassende Theorie, die gleichermaßen "Affekttheorie" und "Interaktionstheorie" ist, das heißt mit anderen Worten: eine Psychologie der Leidenschaften, die zu gleich eine Lehre der Zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt. |
Betrachten wir jetzt noch einen weiteren Begriff, der für unseren Zusammenhang wichtig ist. Emotion. E-motio heißt wörtlich "Herausbewegung". Mit anderen Worten: Die in der Tiefe des Körpers wurzelnde Leidenschaft sucht unter dem Druck ihrer Triebfedern, Sexualität und Aggressivität, ihre Ziele dadurch zu erreichen, dass sie sich ausdrückt. Die Art und Weise dieses Ausdrucks hängt von der spezifischen Persönlichkeit des betreffenden Menschen ab. Dessen Struktur wiederum ist das Ergebnis einer langen Lebensgeschichte, die ihrerseits aus zahlreichen zwischenmenschlichen Begegnungen besteht, von denen jede ihre Spuren als strukturbildende Elemente hinterläßt. Leidenschaft ist somit stets Ausdruck eines ganz spezifischen persönlichen Erlebens, das anders ist als das meines Nächsten, so wie keines Menschen Lebensgeschichte der Biographie anderer gleicht. Freilich gibt es gleichartige Reaktionsweisen auf innere und äußere Reize, sogenannte "stimulus patterns", das heißt wörtlich: Reizmuster. Auf persönliche Bedrohung reagieren wir alle, mehr oder weniger gleich, mit Flucht; man denke nur an einen Ausbruch von Panik bei einem Kino- oder Hotelbrand. Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeld zeigten, dass wir mit den Tieren gemeinsam angeborenen Lerndispositionen unterworfen sind wie Flucht oder Kampf, Bedrohen eines Gegners oder Um werben eines anderen beim Paarungsverhalten. Auf dieser Basis ererbter, angeborener Reaktionsmuster variieren aber die Ausdrucksweisen beim Menschen je nach seiner spezifischen Sozialisation von Fall ZK Fall beträchtlich. |
Halten wir fest: Emotionen oder, wie ich lebensnäher und verständlicher lieber formuliere, Leidenschaften sind starke, !.langanhaltende seelische Kräfte, die den ganzen Menschen erfassen. Sie sind gespeist aus seinem Triebreservoir. Sie charakterisieren die jeweils ganz spezifische persönliche Subjektivität des von ihnen ergriffenen Menschen. Sie drehen sich um Lust oder Unlust, sie sind mit Zeichen körperlicher Erregung verbunden und folgen nicht der Sequenz "Spannung und Entspannung", sondern sind durch eine anhaltende Spannung gekennzeichnet. Descartes nannte sie "Lebensgeister" und David Hume "Triebkräfte unserer Assoziationen, Grundlage aller Vernunftgründe". Sie stehen immer in Beziehung zu Menschen, sind also zwischenmenschliche Phänomene. Sie sind Bewegung, die etwas ausdrückt. Leidenschaften dienen der Verwirklichung unseres Daseins, sie erfüllen uns mit Leben, sie geben unserem Leben einen Sinn. Leidenschaften verändern uns und unsere Umgebung, sie führen, wie Jean Paul Sartre in seinem Entwurf zu einer Theorie der Emotion sagt, im Handeln zu einer "spontanen Umformung der Welt". Leidenschaftlich leben heißt: seine Arbeit mit Begeisterung, mit Enthusiasmus tun, auf den anderen zugehen, auf ihn ein gehen, sich in ihn einfühlen, sich in Beziehungen einlassen, sich nicht scheuen, einmal aus gewohnten Bahnen auszubrechen, sich engagieren, sich mit Leib und Seele einsetzen. Leidenschaftlich sein heißt: eine Idee leidenschaftlich verfechten, sei sie politischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Art; dazu stehen, wenn andere auch dagegen sind und mir aus meinem Verhalten Nachteile erwachsen. Nach diesen positiven Definitionen von Leidenschaft als Basis können wir uns im nächsten Kapitel mit dem komplizierten Verhältnis von Leidenschaft, Moral und Vernunft näher befassen. |
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05 Verarbeiten\Essay\Auf dem Weg zu einer Psychologie der Leidenschaften |
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