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06 Sprechen

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Theoriediskussion Grundlage eines informationstheoretischen Kommunikationsbegriffs

Es gibt zahlreiche Definitionen von 'Kommunikation' und alle Versuche, ein konsensfähiges Metamodell zu schaffen, sind bislang gescheitert. Ich ziehe daraus die Schlussfolgerung, dass offenbar mehrere Modelle erforderlich sind, um die Vielfalt biologischer, psychischer, sozialer, technischer und vielleicht auch weiterer Kommunikationsformen zu erfassen. Die einzelnen Definitionen lassen sich typischerweise unterscheiden, indem man nach der paradigmatischen Kommunikationssituation sucht, die bei ihrer Formulierung (meist unausgesprochen) zugrunde gelegt wurde. In dieser Veranstaltung geht es um nicht technisierte soziale Kommunikation. Welcher Kommunikationsbegriff ist sinnvoll, wenn man es lernen will, hilfreiche Gespräche zu führen? Welches Konzept sensibilisiert uns am besten dafür, die Produktivkräfte von Gesprächen zu erkennen und auszunutzen?
Nicht sonderlich hilfreich scheint mir für diese Aufgabe und die face-to-face Kommunikation die gegenwärtig am meisten verbreitete Theorie zu sein, nach der Kommunikation so etwas wie die Weitergabe von Wissen ist. Über kurz oder lang stellt sich bei diesem Konzept immer die Vorstellung ein, man könne Information wie ein Paket verschnüren und es dann dem anderen übergeben, wie der Postbote sein Paket übergibt.
 
Ebenso ungeeignet scheint mir die Annahme zu sein, man könne Informationen 'verteilen', wie man etwa die Suppe auf verschiedene Teller verteilt. Diese Konzepte passen nicht mit unserem informationstheoretischen Modell zusammen. Denn danach müssen wir davon ausgehen, dass die Empfänger wie die Sender selbst autonome und in sich abgeschlossene Systeme sind, die Umweltkontakt nur über ihre Wahrnehmung, bzw. über ihr Verhalten herstellen können. Man kann ihnen nichts 'geben' - sie müssen es sich 'nehmen'. Jeder muss für sich selbst wahrnehmen und seine eigene Überzeugung bilden. Die alltägliche Formel vom 'den anderen überzeugen' darf nicht zu wörtlich genommen werden. Im Grunde geht es darum, ihm Gelegenheit zu geben, sich selbst zu überzeugen.
Was wir also tun können ist, für andere eine Umwelt zu schaffen (oder eine solche für diese zu sein), die sie wahrnehmen können. Es geht darum, als Umwelt für den anderen informativ zu sein. Und jedes Wort ist im günstigsten Fall eine relevante Umwelt für unseren Gesprächspartner.
Dies bedeutet u. a., dass eine direkte Kommunikation im Sinne einer ganz unmittelbaren Verknüpfung zwischen den psychischen Systemen nicht möglich ist. Es ist immer ein (materielles) Medium dazwischen geschaltet, und sei es im Minimalfall unser leibliches Verhalten und im technisierten Fall die Zeitungen oder die Fernsehnachrichten.
Geht man von diesen Prämissen aus, dann wird Kommunikation unwahrscheinlich.
 
Fliesstext Modul 10: Kommunikationsstörungen
 
Darin unterscheidet sie sich ganz wesentlich von der Informationsverarbeitung. Leider hat Paul Watzlawick, der das wohl meistgelesene, theoretisch anspruchsvolle Buch über die 'menschliche Kommunikation' geschrieben hat, diesen Unterschied zwischen Informationsverarbeitung und Kommunikation nicht mit der notwendigen Schärfe gemacht. Von ihm wird immer wieder der Satz zitiert: "Man kann nicht nicht-kommunizieren." Richtig scheint mir die Überzeugung zu sein, dass alle psychischen Systeme nicht aufhören können, Informationen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Kommunikation ist demgegenüber ein so voraussetzungsvoller Prozeß, auch ein so anstrengender, dass ihn kein psychisches System dauerhaft aushalten kann. Die Natur trägt dieser Tatsache dadurch Rechnung, dass wir beispielsweise schlafen müssen, um uns zu regenerieren und das heißt auch, um uns von Kommunikation zu erholen.
Genau genommen hätte ich eben von 'sozialer' Kommunikation sprechen sollen. (Das ist auch der Fall, den Watzlawick bei seinem Diktum im Kopf hatte.) Ob, und wenn ja, wann intrapsychische Kommunikation aufhört, ist eine andere Frage. Was nun die soziale Kommunikation angeht, so kann man feststellen, dass die verschiedenen Gesellschaften immer wieder selbst und zu den verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise festgelegt haben, welche Gelegenheiten sozialen Kontaktes sie mit dem Prädikat Kommunikation auszeichnen wollen. Wir haben es als soziale Wesen mit anderen Worten selbst in der Hand, festzulegen, was wir als Kommunikation verstehen wollen und was nicht. Aus diesem Grund ist die Frage, was Kommunikation ist, auch wenig sinnvoll. Die Antwort kann ja immer nur lauten, Kommunikation ist das, was bestimmte soziale Gruppen zu bestimmten Zeiten als solche festlegen. Wir haben die Freiheit zu einer solchen Normierung.
Aus informationstheoretischer Sicht gibt es allerdings einige Vorgaben. Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Kommunikation ist die Parallelverarbeitung von Informationen durch unterschiedliche Prozessoren. Verständigung, in welcher Form auch immer, scheint ausgeschlossen, wenn die Beteiligten nicht wenigstens ähnliche Informationen verarbeiten. Dies setzt aber


- gleiche Umwelt
- gleiche Informationsverarbeitungsprogramme und
- gleiche materielle Strukturen, gleiche Hardware
voraus.

Alle Sozialisation und Kulturentwicklung lässt sich als ein Versuch verstehen, solche gleichen Umwelten, Programme und Informationssysteme zu schaffen. Alle Normierungs- und Standardisierungsprozesse, die wir in der Geschichte beobachten können, dienen auch dazu, die Wahrscheinlichkeit von Parallelverarbeitung von Informationen bei den Individuen zu erhöhen. Das Paradebeispiel für eine solche Normierung ist die alphabetische Dressur unserer Artikulationsorgane, die Verbreitung der 'Sprache'. Sprache ist in erster Linie ein Algorithmus, ein Code, nach dem wir unsere Artikulationsorgane bewegen. Und da viele Menschen über den gleichen Code verfügen, artikulieren sie ähnlich. Es ist dies eben der Sonderfall einer Standardisierung von Effektoren und damit von einem Teil der Informationsverarbeitung.
Diese ganzen Anstrengungen, die sich ja dann in der Vermittlung der Schriftsprache in allgemeinbildenden Schulen fortsetzt, sind nur notwendig, weil Verständigung unwahrscheinlich ist. Wäre sie das unvermeidbare Ergebnis des Zusammentreffens von Individuen, dann brauchten wir solche Normierungen nicht.
Um zu wissen, ob Parallelverarbeitung von Umwelteindrücken stattfindet, muss jeder Gesprächspartner sein Verstehen signalisieren, nach außen tragen - und dies muss wieder wechselseitig bemerkt und gleichsinnig interpretiert werden. Logisch betrachtet ist dies ein unabschließbarer Prozess, praktisch brechen wir ihn irgendwann, meist sehr zeitig, ab. Die Signale werden als Feedback verstanden. Ein Spezialfall wäre davon die Metakommunikation: Ich habe nicht verstanden, was du gesagt hast!
 
Übung Übungen in Modul 10: Feedback, Blitzlichtvorbereitung, Metakommunikation
 
In jedem Fall scheint soziale Kommunikation die Wahrnehmung der Wahrnehmung des anderen, die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung des Selbst in dem Gesprächssystem vorauszusetzen. Diese Verknüpfung von wechselseitigen Prozessen der Wahrnehmung und der Rückmeldung von Wahrnehmungen erst führt zur Bildung von sozialen Kommunikationssystemen.
 
Fliesstext Modul 10: Bewältigung von Störungen
 
Aber dies ist natürlich streng genommen schon ein Versuch, einen bestimmten Kommunikationsbegriff durchzusetzen. Niemand kann es uns vorschreiben, Rückkopplung zur notwendigen Bedingung eines erfolgreichen Gesprächs zu machen. Ich halte es aber für sinnvoll, genau dies zu tun. Die Gründe dafür sind durchaus außerwissenschaftlicher Natur. Es scheint mir günstig, einen Begriff von Kommunikation zu propagieren, der Wechselseitigkeit, Selbstwahrnehmung und eben auch die Rücksicht auf den anderen fordert. Ein solcher Kommunikationsbegriff entspricht demokratischen Grundprinzipien und er erscheint mir als ganz geeignet, um drängende Probleme unserer Zeit besser in den Griff zu bekommen.



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