F.A.Q. Entmystifizierung der Buchkultur - was soll das heißen?

 

 
Jede Kultur wird durch so zahlreiche Werte und Programme gesteuert, dass sie um Akte der Selbstsimplifikation nicht umhinkommt. Sie thematisiert manche Werte und drängt andere damit in den Hintergrund von öffentlichem und individuellem Bewusstsein. Diesen Vorgang kann man Sozialisation, Normierung, Strukturbildung oder eben auch Ideologisierung nennen. Jedenfalls findet er unvermeidlich statt. Er schafft soziale Strukturen und führt zu Unterschieden zwischen den einzelnen Kulturen auf unserem Globus.
Schema: Mythen aus kommunikationstheoretischer Sicht - Mythen 3D und triadisches Denken
Mythen liefern die Legitimation für solche Vereinfachungen. Sie machen plausibel, warum beispielsweise das eine Medium wichtiger als das andere, der eine Wissenstyp wertvoller als sein Gegenteil sein soll. Sie erzählen, was in den unendlich zirkulären kulturellen Prozessen als Anfang und was als Ende zu gelten hat. Im Grunde sind alle Selbstbeschreibungen Mythen, weil sie die Komplexität des Systems vereinfachen müssen. Vielleicht ist deshalb auch der Ausdruck 'Entmystifizierung' missleitend. Da die Mythenbildung für die individuelle und kulturelle Identitätsbildung unvermeidlich ist, führt jede Entmystifizierung zu neuen Mythen. Es kann also nur darum gehen, zeitgemäße Mythen zu finden, solche zu verdrängen, die sich als Blockaden für die Zukunftsgestaltung erweisen. Generell kann man wohl nur davor warnen, zu wenig Mythen zu haben, eben weil dies zu viel Komplexität reduziert (je mehr Mythen nebeneinander existieren, desto mehr Komplexität bleibt erhalten). "Ungefährlich hingegen sind die Polymythen", schrieb Odo Marquard 1979, "... wer polymythisch - durch Leben und Erzählen - an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach überkreuz; wer monomythisch durch Leben und Erzählen nur an einer einzigen Geschichte teilnehmen darf und muss, hat diese Freiheit nicht; er ist ganz und gar - sozusagen durch eine monomythische Verstricktseinsgleichschaltung - mit Haut und Haar von ihr besessen." [1]

[1]  Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In: Odo Marquard (Hg.) Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart, 1981, S. 91-116, hier S. 98.
Fliesstext: Von den Mythen und ambivalenten Leistungen der Buchkultur über die Versprechungen der neuen Medien zu den ökulogischen Visionen der Informationsgesellschaft [Leittext]                    Fliesstext: Mythen                    Fliesstext: Methoden der Mythenanalyse