Mythen liefern die Legitimation für solche Vereinfachungen.
Sie machen plausibel, warum beispielsweise das eine Medium wichtiger als
das andere, der eine Wissenstyp wertvoller als sein Gegenteil sein soll.
Sie erzählen, was in den unendlich zirkulären kulturellen Prozessen als
Anfang und was als Ende zu gelten hat. Im Grunde sind alle Selbstbeschreibungen
Mythen, weil sie die Komplexität des Systems vereinfachen müssen. Vielleicht
ist deshalb auch der Ausdruck 'Entmystifizierung' missleitend. Da die Mythenbildung
für die individuelle und kulturelle Identitätsbildung unvermeidlich ist,
führt jede Entmystifizierung zu neuen Mythen. Es kann also nur darum gehen,
zeitgemäße Mythen zu finden, solche zu verdrängen, die sich als Blockaden
für die Zukunftsgestaltung erweisen. Generell kann man wohl nur davor warnen,
zu wenig Mythen zu haben, eben weil dies zu viel Komplexität reduziert (je
mehr Mythen nebeneinander existieren, desto mehr Komplexität bleibt erhalten).
"Ungefährlich hingegen sind die Polymythen", schrieb Odo Marquard
1979, "... wer polymythisch - durch Leben und Erzählen - an vielen
Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von
der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach
überkreuz; wer monomythisch durch Leben und Erzählen nur an einer einzigen
Geschichte teilnehmen darf und muss, hat diese Freiheit nicht; er ist ganz
und gar - sozusagen durch eine monomythische Verstricktseinsgleichschaltung
- mit Haut und Haar von ihr besessen." [1]
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