Die perspektivische Sicht auf die Welt hat nicht nur unsere Wahrnehmung sondern auch die Art und Weise, wie wir uns mit unseren Mitmenschen verständigen, verändert.
Um diese Leistung zu verstehen, ist es erforderlich, zwischen Informationsverarbeitung und Kommunikation genauer zu unterscheiden, als dies im Alltag und in der Fachliteratur oftmals der Fall ist. Weit verbreitet ist das Diktum von Paul Watzlawick, man könne nicht nicht kommunizieren. Auf die Untersuchung sozialer Kommunikation hat dieses Axiom keinerlei förderliche Einflüsse gehabt. Ich halte es für entschieden fruchtbarer davon auszugehen, daß soziale Kommunikation eine von zahlreichen Voraussetzungen abhängige, höchst unwahrscheinliche Angelegenheit ist und daß es deshalb notwendig ist, jeweils im einzelnen empirisch festzustellen, welche situativen Voraussetzungen, Ablauferwartungen und Umweltbedingungen erfüllt sein müssen, damit die Verständigung einsetzt und klappt. Wann Kommunikation erfolgreich ist, können nur die Beteiligten selbst entscheiden.
Nicht widersprechen will ich der Behauptung, daß wir als psychische und soziale Systeme beständig wahrnehmen, Informationen verarbeiten und uns verhalten. Man kann nicht nicht Informationen verarbeiten. Aber so wie jegliche andere Form von Kooperation gelernt sein will, so will auch das kooperative Bearbeiten von Informationen gelernt sein.
Die hier vertretene These lautet, daß es die perspektivische Theorie seit dem ausgehenden Mittelalter vermocht hat, bis dato unwahrscheinliche Formen sozialer Kommunikation zu ermöglichen. Sie ist also nicht nur ein Modell psychischer Wahrnehmung sondern sie ermöglicht in besonderem Maße soziale Informationsverarbeitung und Kommunikation. Gerade deshalb ist es nicht ausreichend, diese Theorie bloß mit psychologischen Kategorien zu erfassen.
Auf einen einfachen Nenner gebracht, löst die Zentralperspektive das Problem der interaktionsfreien Verständigung über unsere sichtbare Umwelt. Sie ermöglicht es Dritten, Erfahrung zu wiederholen, die unbekannte Betrachter irgendwann gewonnen haben. Wenn wir unter Kommunikation die Parallelverarbeitung von Informationen (Reproduktion/‘Weitergabe’ von Wissen) verstehen, dann ermöglicht das perspektivische Programm der sozialen Informationsverarbeitung (als Reproduktion individueller Informationsverarbeitung) die monomediale Massenkommunikation.
Was es auch immer sonst noch für Ursachen für die beschleunigte Modernisierung in Europa in der Neuzeit gegeben hat, eine Grundvoraussetzung war die Vergesellschaftung der Wahrnehmung und anschließender Formen der Informationsverarbeitung. Man hätte die materielle Produktion weder in der Weise teilen und technisieren, noch sie über Manufakturen und anonyme Märkte wieder zusammenführen können, wenn dieser Arbeitsteilung bei den materiellen Produkten nicht auch eine Sozialisierung und Technisierung der Informationsproduktion und der Kommunikation entsprochen hätte. Beides muß - wie Hard- und Software - Hand in Hand gehen.
Diesen informationstheoretischen Wurzeln unserer modernen Industriegesellschaft hat die Wissenschaft viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Im 16. Jahrhundert demgegenüber hatte die Frage, wie man individuelle Wahrnehmungen verallgemeinern, individuelles Wissen nicht nur einem leiblichem Gegenüber sondern vielen, auch unbekannten, Menschen zur Verfügung stellen kann, eine ganz große Bedeutung.
Und die Maler und Architekten, die sich mit perspektivischen Konstruktionen befaßten, lieferten hier die besten Antworten.
Der Besucher, der mit Brunelleschis Bild der Kirche von San Giovanni durch Florenz streift, wird diese Kirche wiedererkennen. Er wird jenen Platz 'innerhalb der Mitteltür von Santa Maria del Fiore' finden, von dem auch Brunelleschi seine Informationen gesammelt hat. Und wenn er dann die übrigen Programmpunkte beherzigt, die Konturen von San Giovanni mit seinen Sehstrahlen Punkt für Punkt abtastet, einäugig und ohne seinen Kopf zu verrücken, dann wird er das gleiche sehen wie Brunelleschi.1 – Dies ist natürlich eine Idealisierung. Er wird zugleich auch mehr und weniger als sein Vorgänger sehen. Aber es gibt eben einen Überschneidungsbereich. – Er wird seine Wahrnehmung mit dem Bild vergleichen können und dort jeden einzelnen Sims nach richtig und falsch beurteilen können. D.h. er wird entscheiden können, ob das Bild den Regeln der zentralperspektivischen Projektion folgt oder nicht. Nicht das Bild allein, wohl aber das Bild plus die Regeln der zentralperspektivischen Informationsverarbeitung ermöglichen eine Parallelverarbeitung der sichtbaren Umwelt durch verschiedene Menschen.
Dies ist eine ziemlich unwahrscheinliche Leistung, die frühere Zeiten so nicht für möglich hielten. Plinius z. B. begründet seinen Verzicht auf Pflanzenabbildungen in seiner ‘Naturgeschichte’ der Pflanzen damit, daß sowieso niemand aufgrund von Zeichnungen die Pflanzen in der Natur wiedererkennen könne. Es sei also besser, der Leser wende sich an einen Experten, am besten ihn persönlich, und lasse sich jeweils die erwähnten Pflanzen oder andere Dinge zeigen. Ausgetauscht werden konnten zu seiner Zeit nur die Argumente über die Dinge, Merkmalszuschreibungen mit Worten - wenn Leser wie Schreiber über die gleiche Sprache (u. v. a. m.) verfügten.
So verwundert es denn auch nicht, daß Brunelleschi das Ergebnis seiner Wahrnehmung und Darstellung so unglaublich erschien, daß er für die intersubjektive Überprüfung ein spezielles Experiment vorschlug - und daß dieses bis auf den heutigen Tag immer wieder zitiert wird - : Der Betrachter solle durch ein Loch durch die Rückwand seines Bildes von San Giovanni auf die Kirche selbst blicken und dann im Wechsel immer wieder einen Spiegel hochheben, so daß mal das Spiegelbild seiner Darstellung und dann wieder die Kirche selbst für den Betrachter sichtbar werden. Wenn man seinem Biografen Antonio di Tuccio Manetti glaubt, dann wurde dieses Experiment sogar erfolgreich durchgeführt: "Und ich habe es in Händen gehalten und mehrere Male zu meiner Zeit gesehen und kann dafür Zeugnis ablegen......."2
Meist wird diese Stelle zitiert, um die Fähigkeit der Zentralperspektive zu demonstrieren, synthetische Modelle zu schaffen, die die Wirklichkeit imitieren: 'Kunst und Illusion' (E. Gombrich). Aber dies ist nur die gauklerische Seite dieses Phänomens, die sich dann über die barocke Belustigung an der Camara obscura, die laufenden Bilder auf den Jahrmärkten bis hin zu unseren Videospielen fortsetzt.
Bedeutsamer ist die Tatsache, daß Manetti, indem er dieses Experiment durchführt, die Wahrnehmung einer anderen Person, die auch schon verstorben sein kann, nachvollzieht. Er vergleicht ja letztlich seine psychische Repräsentation der Kirche mit der malerischen Darstellung, die Brunelleschi von seiner Wahrnehmung der Kirche gegeben hat - und stellt hierbei Ähnlichkeiten fest. Frappierend ist die gleichsinnige Klassifikation der Umwelt durch unterschiedliche Menschen. Als Brunelleschi an der Stelle stand, wo jetzt Manetti steht, sah er die Kirche genauso wie er. Und alle anderen Menschen, die diesen Standpunkt, der übrigens von dem Bild mitkommuniziert wird, einnehmen, werden die Kirche wieder ähnlich sehen. Was ist dies für ein Gemeinschaftserlebnis - und nicht bloß ein Erlebnis, sondern eine Gewißheit, die sich experimentell bestätigen läßt?!
Von nun an wird die exakte Reproduktion bestimmter Phasen individueller Informationsverarbeitung durch anonyme Dritte möglich. Das ausgehende Mittelalter legt so gesehen nicht nur die Grundlagen für die Massenproduktion von materiellen Gütern, sondern auch für jene von Informationen. So wie ab dem 15. Jahrhundert Bücher identisch reproduzieren lassen, so erscheinen schon zuvor visuelle Wahrnehmungen als reproduzierbar.
Aber nicht nur das. Die Reproduktion von Erfahrung erweist sich auch als Bedingung ihrer Verbesserung und Akkumulation. Erst wenn B umstandslos auf den Erfahrungen von A aufbauen kann, läßt sich mit der Zeit das Wissensbauwerk aufstocken.
Die Beschreibung der Umwelt wird zu einer kontrollierten sozialen Konstruktion. Falls sich in der Zwischenzeit irgendetwas an dem Aufbau von San Giovanni geändert hat oder falls Brunelleschi eine Zinne übersah, so kann sie Manetti in das Bild einfügen. Die Abbildungen lassen sich verbessern und wenn man dabei streng nach der Lehre verfährt, so erübrigt es sich, beim Erstbeschreiber nachzufragen, Erlaubnis einzuholen. Interaktion wird durch die Orientierung an einer Norm, nämlich jener der perspektivischen Wahrnehmung und Darstellung, ersetzt. Soziologen nennen das heute 'Legitimation durch Verfahren'.
Die Sammlung von Informationen über die Umwelt wird in der Neuzeit zu einer durch klare Standards geleiteten sozialen Veranstaltung. Ihre Ergebnisse, die Beschreibungen in der Welt, sind keine individuellen Leistungen, auch nicht bloße Additionen derselben, sondern das Produkt tatsächlicher gesellschaftlicher Kooperation. Die Kooperierenden können unterschiedlichen sozialen Schichten, Professionen und Generationen angehören. Sie brauchen sich nicht zu kennen.
Um diese Form von gesellschaftlicher Zusammenarbeit zu erreichen, müssen die Ergebnisse der psychischen Informationsverarbeitung, wie es damals hieß 'gemein' gemacht, mit anderen geteilt werden. (Als Motivationsverstärker für diese 'Veröffentlichung', die zumindest in Deutschland die Idee der Nation.)
Von nun an läßt sich Kommunikation als Parallelverarbeitung von Informationen nicht gleichzeitig sondern zeitlich versetzt, als Reproduktion von Wissen begreifen.
Und es ist nun genau dieses Kommunikationsmodell, welches man für den Aufbau der anonymen Massenkommunikation brauchte, zu der Buchdruck und die freie Warenwirtschaft im 15. Jahrhundert die technischen und ökonomischen Voraussetzungen schufen. Zu beantworten war die Frage: Wie ist Verständigung über die Umwelt zwischen einem Autoren und seinen vielen Lesern nur mit Hilfe von ausgedruckten Büchern, ohne die Möglichkeit schneller Rückkopplung und direkter Interaktion möglich?
Die durch die zentralperspektivische Theorie vorgegebene Antwort lautet:
Sie ist möglich, wenn wir unter Kommunikation nicht mehr und nicht weniger verstehen wollen, als die Wiederholung der Informationsverarbeitung des Autoren durch den Leser. Wir müssen dann dafür sorgen, daß die zugrunde liegenden perspektivischen Programme (und die Programme der standardsprachlichen Textproduktion) in allgemeinbildenden Schulen allen Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft vermittelt werden und daß im übrigen jeder Autor die Programme in seinen Büchern klarlegt, die über das sozial Normierte hinausgehen.
Sobald sich diese Form typographischer Kommunikation eingespielt hatte, entstand der Mythos, man könne die Informationen wie Waren, eben wie ausgedruckte Bücher an andere weitergeben. Kommunikation erscheint in Analogie zum Warentausch als Informationsaustausch.
(Dies ist in kurzen Zügen die Argumentation in meiner Arbeit über den ‘Buchdruck in der frühen Neuzeit’. Ffm. 1991 u. ö.)
1 Überprüfung der Aussage bei Renzo Beltrame: Gli esperimenti prospettici del Brunelleschi. In: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche. Serie VIII, Vol. 28, März/April 1973, S. 417-468.
2 Übersetzung abgedruckt bei Thomas Cramer: Über Perspektive in Texten des 13. JH. In: Ders. (Hg.). Wege in die Neuzeit. München 1988, S. 115/6 und bei Joscijka Gabriele Abels: Erkenntnis der Bilder: die Perspektive in der Kunst der Renaissance. Ffm. New York 1985, S. 79/80.
|