Michael Giesecke: Die Logik der Modellbildung bei Dürer
   

Die erste gründliche Darstellung der neuzeitlichen Lösung des Koordinationsproblems findet sich bei A. Dürer. Die Lösung besteht kurzgesagt darin, daß man vorab (ideell) ein Modell der Phänomene bildet, welches mehrdimensional ist, aber nur eine begrenzte Anzahl von Dimensionen enthält. Dieses Modell weist dem Betrachter die notwendige Anzahl von Standpunkten und Beschreibungsperspektiven an. Jede einzelne Beschreibung erfolgt dann nach den schon geschilderten linearperspektivischen Prinzipien. Am Ende werden die verschiedenen Ansichten entsprechend des postulierten Modells und gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Symmetrieprinzipien zu einem mehrdimensionalen Modell zusammengesetzt, integriert.

Bei dieser Integration korrigieren sich die verschiedenen Seitenansichten wechselseitig, so daß das Ergebnis spezifischer ist als das - in Dürers Beispiel kubische - Ausgangsmodell. Das resultierende Modell kann in verschiedener Weise sprachlich und/oder ikonisch darstellt werden.

Zur Veranschaulichung der Modellbildungsprinzipien habe ich verschiedene Darstellungen aus Dürers Arbeiten ausgewählt. Es geht in diesen Beispielen um die Beschreibung und Modellierung eines 'männlichen Kopfes'.

Zum Bildbeispiel Dürers Artmodelle
Die hier zugrundeliegende Modellvorstellung ist die eines regelmäßigen geometrischen Körpers, nämlich eines Quaders. Dürer fordert in diesem Fall vier Ansichten (Beschreibungen) des - als Quader vorgestellten - Phänomens: Die Seitenansicht, die Vorderansicht, die Hinteransicht und die Maulwurfperspektive.(1) Er unterstellt damit, daß die Seitenansichten strukturell homomorph, symmetrisch sind. Die aus systematischen Gründen erwartete sechste Ansicht des Quaders aus der Vogelperspektive läßt er als wenig informativ beiseite. Nur diese vier Ansichten, so meint Dürer, sind notwendig, wenn man einen menschlichen Kopf 'richtig' beschreiben will. Allen Beschreibungen muß ein einheitlicher Maßstab, gleiche Kantenlänge, zugrundeliegen. Schon bei der Informationsgewinnung ist diese Anforderung durch die Benutzung normierter Maße, bei der 'Abconterfeytung' durch die Einhaltung eines konstanten Abstands zwischen dem Betrachter/Beschreiber und seinem Objekt Rechnung getragen worden. Man erkennt hier, wie die zugrundeliegende Modellvorstellung Dürers alle Phasen der Informationsgewinnung, -verarbeitung und -darstellung bestimmt und diese dadurch vereinheitlicht, zu einem System zusammenschließt.

Der nächste große Schritt ist die Koordinierung der Beschreibungen zu einem räumlichen Modell. Auch diese Koordination ist nur möglich, weil schon von Anfang an ein mehrdimensionales Modell des Phänomens 'Kopf' die Beschreibung angeleitet hat. Zur Veranschaulichung der Koordinationsprinzipien mögen Zeichnungen aus Dürers Dresdener Skizzenbuch dienen. Auch auf dieser Skizze sieht man wieder vier Ansichten, die Frontalansicht, eine Seitenansicht, eine Ansicht aus der Maulwurf - und eine aus der Vogelperspektive. Letztere 'ersetzt'hier gewissermaßen die Rückansicht, für die sich Dürer in der Druckfassung als konstitutives Bestandteil einer 'richtigen' Modellierung entschieden hat. Sehr schön kann man die Koordinierung der Zeichnungen durch die Hilfslinien verfolgen. Diese koordinierten Ansichten bilden gleichsam das 'Rohmaterial', welches zu dem mehrdimensionalen räumlichen Modell des Kopfes integriert wird, das rechts unten auf der Zeichnung zu sehen ist. Das Modell ist 'durchsichtig' und besteht im wesentlichen aus Umrißlinien und einigen Hilfslinien. Letztere legen Schnitte durch das Modell und zwar genau an denjenigen Stellen, an denen der Kopf auch schon in den Beschreibungen durch Hilfslinien vermessen und - durch deren Verlängerung - koordiniert wurde. Jetzt helfen sie als zusätzliche Anhaltspunkte mit, die Umrisse des Kopfes zu rekonstruieren.(2)

ZUm Bildbeispiels Dürers Artmodelle
Das als Ergebnis vorliegende Modell ist entschieden differenzierter als das Ausgangsmodell, der geometrische Quader. Es enthält mehr Informationen. Aus dem nur durch die Kantenlänge und die Winkel bestimmten Würfel ist der 'Kopf' als ein unregelmäßiger Körper gleichsam herausgeschnitzt. Der neu geschaffene Körper erhält seine Identität durch eine systematische Abweichung von den Strukturen und dem Volumen des Ausgangsmodells. Ideale Konstrukte sind freilich beide Gebilde. Dürers Betrachtung des menschlichen Kopfes versteht sich weder von selbst noch ist sie 'natürlich'.

Dürers Ziel ist es, bestimmte Typen von Artmodellen aufzustellen. Zwei dieser Typen nennt er 'Männer' und 'Frauen'. Diese Kategorien verfeinert er auch gelegentlich auf 'junge Männer' bzw. 'junge Frauen' usf. Systematisch gesehen handelt es sich hier um eine Regeneralisierung seiner als Spezifikation aus dem Quadermodell entstandenen Konstrukte: Artmodelle als Verallgemeinerung von Modellen von Exemplaren oder Gattungsmodelle als Verallgemeinerung von Artmodellen - je nachdem auf welchem Spezifitätsniveau man einsteigt. Generalisiert werden in der ,Proportionslehre‘ nur bestimmte Strukturmerkmale des Modells, vor allem die Verhältnisse zwischen den Körperteilen (Proportionen).

Dürer gibt eine sehr genaue Schilderung des Ablaufs der Bildung dieser höherstufigen Modelle, die hier nur skizziert werden kann. In der ersten Phase werden die Untersuchungsgegenstände, in diesem Fall zahlreiche Männer und Frauen unterschiedlicher Altersgruppen und Statur, von verschiedenen Seiten beschrieben. Voraussetzung für diese Beschreibung ist, daß zuvor festgelegt wurde, wieviele Seiten (Dimensionen) der Untersuchungsgegenstand hat. Dürer geht davon aus, daß für den menschlichen Körper immer drei Seitenansichten zu erheben sind, die Vorderansicht, eine Seitenansicht und die Hinteransicht. (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528: Aiii v) Bezüglich der Struktur der Seitenansichten macht Dürer ebenfalls allgemeine Annahmen (Strukturtheorien): Er zerlegt den Körper in 'Gliedmaßen' und 'Körperteile'. Ziel der Analyse der empirischen Exemplare - oder die Fragestellung des Forschungsprozesses - ist die Feststellung der Maße der Körperteile und der Proportionen zwischen ihnen. Die Beschreibungsergebnisse können zunächst (eindimensional) in einer Tabelle festgehalten werden. Eine Koordinierung der Beschreibungen der Seiten ist möglich, indem man die Strukturannahmen (Körperteile) als Orientierungsmarken verwendet.

Nach dieser Phase können entweder in einem zweiten Schritt 'ideale' Beschreibungen angefertigt und dann in der dritten Phase hieraus mehrdimensionale Modelle gebildet werden oder es können zunächst Modelle der einzelnen Untersuchungsexemplare gebildet und diese hernach verglichen werden. In jedem Fall gibt es eine Phase des Vergleichs der Beschreibungen und eine Phase der Modellbildung. In der Vergleichsphase werden die Beschreibungen (Tabellen mit den Maßen der Körperteile), die von den verschiedenen Untersuchungsgegenständen angefertigt wurden, vor dem Hintergrund des spezifischen Forschungszieles verglichen. Im vorliegenden Beispiel können etwa Typen der menschlichen Gestalt (nach Körperbau, Alter, Geschlecht usw.) gebildet und statistische Mittelwerte errechnet werden. Für diese 'Typen', z.B. 'Kind', 'erwachsener Mann', 'alte Frau' u.ä., kann es empirische Beispiele geben, es kann aber auch sein, daß solche Beispiele konstruiert werden müssen.(3) In der Modellbildungsphase werden die Beschreibungen (der Seitenansichten) zu mehrdimensionalen Modellen zusammengesetzt. Voraussetzung ist hier, wie in der ersten Phase, daß festgelegt ist, welche ,Seiten‘ der Untersuchungsgegenstand besitzt oder anders ausgedrückt: 'als was' das natürliche Phänomen (hier: der menschliche Körper) vorzustellen ist.

Dürer hält den menschlichen Körper insgesamt für so komplex, daß er eine differenzierte Modellvorstellung entwickelt: er stellt sich den 'Leib' nicht als einen, sondern als einen zusammengesetzten Körper vor. Seine Grundidee für die Modellbildung ist, daß eine "yedliche der leyblichen creatur" - also auch Tiere - "in fierung oder eckete corpora" zerlegt werden können (ebd. yii r). In seinen Büchern gibt er eine Anleitung, wie man sich den menschlichen Körper als zusammengesetzt aus verschiedenen geometrischen Figuren im einzelnen vorstellen soll.

In einer vierten Forschungsphase können an dem mehrdimensionalen Modell 'Experimente' durchgeführt werden. Dürer etwa benutzt in seiner Arbeit die körperhaften, räumlichen Modelle, um zu zeigen, wie Menschen ihre 'Glieder biegen und verwenden', d.h. er führt Bewegungsstudien durch.(4) Mit den 'Bewegungsstudien' wird eine neue, dynamische Dimension in das theoretische Modell des menschlichen Körpers eingeführt. Voraussetzung für die Beschreibung der Bewegungen des menschlichen Körpers bzw. seiner Gliedmaßen sind wiederum (Struktur-)Theorien über diese Dimension. Dürer nimmt sechs Bewegungsarten an und definiert sie - wie dies im Rahmen seines Theorieaufbaus zu erwarten ist - geometrisch.

Eine weitere interessante Klasse von Experimenten, die Dürer mit seinen Modellen durchführt, kann man als 'Optimierungsstudien' bezeichnen: beispielsweise fragt er sich, welche Körper unter Harmoniegesichtspunkten eine 'ideale' Struktur besitzen. Als Antwort auf diese Frage entstehen wieder Modelle mit idealtypischen Proportionen. Diese Modelle sind noch einmal abstraktiv aus den (statistischen) Modellen gewonnen.


Bei diesem Text handelt es sich um einen leicht veränderten Ausschnitt des Exkurses "Die Logik der Modellbildung bei A. Dürer" In: Giesecke, Michael (1988): Die Untersuchung institutioneller Kommunikation, Opladen, 117-128.
 
1) So auch bei der Konstruktion des 'Kopfes' auf F I r im gleichen Buch. Später, im 4. Buch, wählt er für die Konstruktion einer Gesamtgestalt eines 'Mannes' die Vogelperspektive und spart sich die Maulwurffperspektive, weil diese hinsichtlich der Proportionen keinerlei andere Maße liefert. (Vgl. YV r).
 
2) Ein bißchen verwirrend mag an diesem Beispiel zunächst sein, daß das Modell des Kopfes auch wieder auf einer Fläche, also zweidimensional dargestellt ist. Man muß sich vergegenwärtigen, daß es sich hierbei nur um die zeichnerische Abbildung eines räumlichen Modells handelt. Systematisch gesehen wird diese Abbildung zu einem weiteren Kapitel innerhalb der Darstellungslehre, welche sich mit dem Problem beschäftigt, wie mehrdimensionale Modelle der Wirklichkeit in Büchern (zweidimensional) dargestellt werden können.
 

3) Ebd.: Aiv: "So ich nun alle lenge dicke und preiten ordentlich bey den dreyen auffrechten linien beschriben und bezeichnet hab/alsdann ezuch [ziehe, zeichne] ich die gestalt mit linien nach meinem gutbeduncken darein/ oder so ich das haben mag/ stell ich einen gelichmessigen menschen für mich/ und zeuch die linien nach jm/ das wirdet allweg pesser/ werde [als] nach seinen sin [der bloßen Imagination] gemacht."
 
4) Bewegungsstudien' sind der Inhalt des vierten 'Büchlein von menschlicher Proportion'. Für manche Experimente ist es nicht erforderlich, mehrdimensionlae Modelle zu entwickeln, sie können auch an typisierten Beschreibungen durchgeführt werden. Dies trifft beispielsweise auf die 'Verkerungen' menschlicher (Kopf)Profile zu, die Dürer im dritten Buch seines Werkes vornimmt.

Zur Bilddokumentaion über Dürers ArtmodelleDie 5 phasen des Wahrnehmungs- und Darstellungsprozesses - Eine ZusammenfassungZum Text "Prinzipien der Modellbildung in der Botanik"