![]() |
Michael Giesecke: Die perspektivischen Darstellungen da Vincis [1] |
Die in "Das Glasscheibenideal" und "Die
Entsubjektivierung des Menschen" beschriebene (linearperspektivische)
Normierung der Sehweise und Beschreibungstechnik führt in der frühen
Neuzeit noch nicht zu Pflanzenbeschreibungen, die botanischen Bedürfnisse
genügten. Sie ermöglicht zunächst nur die Wiedergabe von
einer Seite eines natürlichen Phänomens. Pflanzen sind aber komplizierte
Gebilde, die mehrere Seiten besitzen. Kennt man nur eine Seitenansicht,
z.B. einer Blüte, so weiß man nicht unbedingt, wie die andere
Seite ausschaut und kann deshalb die entsprechende Pflanze u. U. nicht wiedererkennen.
Was man brauchte, waren eigentlich nicht ,einseitige‘ Beschreibungen, sondern
Modelle von den Pflanzen, die mehrere Ansichten repräsentiert, Beschreibungen
verschiedener Seiten integrierten. Soweit ich sehe, war Leonardo da Vinci
der erste, der forderte, daß natürliche Gegenstände von
mehreren Standpunkten und aus verschiedenen, aber aufeinander bezogenen,
Perspektiven betrachtet werden müssen, damit eine 'richtige' Darstellung
der Gegenstände, eine wahre Modellierung der natürlichen Phänomene,
entsteht. So fügte er bei der Darstellung der menschlichen Wirbelsäule in seinen anatomischen Aufzeichnungen (Codex Windsor 139v) erläuternd hinzu: "Du [Naturforscher] wirst die Knochen des Halses in ihrer Gesamtheit von drei Seiten, und [den einzelnen Wirbel] ebenfalls von drei Seiten getrennt zeichnen, und so wirst Du wahres Wissen von diesen Formen geben, Wissen, das den alten und modernen [zeitgenössischen] Autoren unmöglich ist. Auch hätten sie niemals ohne einen ungeheueren, zeitraubenden und verwirrenden Aufwand wahres Wissen geben können. Aber durch diesen kurzen Weg des [Betrachtens und] Zeichnens von verschiedenen Seiten gibt man ein volles und wahres Wissen von ihnen [den Wirbeln]."[2]Oder an anderer Stelle: "Wahre Kenntnis der Form eines jeden Körpers erhält man, indem man ihn von verschiedenen Ansichten sieht." (Ebd. 135v). |
Das Beispiel der Abbildung der Wirbelsäule zeigt gut, wie sich die verschiedenen Ansichten nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern auch korrigieren. So ist die Darstellung der Seitenansicht der Wirbelsäule, die ihre Krümmung wiedergibt, erforderlich, um die Vorderansicht, in der die Wirbelsäule einen schnurgeraden Eindruck hinterläßt, zu korrigieren. Die Notwendigkeit, mehrere Beschreibungen zusammenzutragen, ergibt sich aus der Tatsache, daß jede einzelne Beschreibung eine Projektion eines mehrdimensionalen Phänomens auf eine zweidimensionale, plane Fläche ist. Die Verkürzungen (Reduktionen der Dimensionen), die bei der Beschreibung entstehen, können natürlich durch die Modellbildung nicht gänzlich aufgehoben, wohl aber durch mehrere Ansichten beliebig korrigiert werden. Geht man von der Notwendigkeit verschiedener Beschreibungen desselben Phänomens aus, so stellt sich sogleich die Frage, in welcher Weise diese Beschreibungen der Seitenansichten miteinander zu verknüpfen sind. Historisch scheint es so gewesen zu sein, daß der Betrachter zunächst mehrere charakteristische Ansichten des Phänomens, die er von verschiedenen Standpunkten aus gewonnen hat, sammelte. Die entstehenden sprachlich symbolischen oder zeichnerischen Darstellungen des Phänomens konnten dann nach - bzw. nebeneinander gelegt werden, ohne daß dabei die Idee im Hintergrund zu stehen brauchte, daß es sich bei dem Referenzobjekt um ein Phänomen mit einer bestimmten Anzahl von Dimensionen - z.B. um einen geometrischen Körper - handelt. Die 'Modellierung' des Phänomens erfolgt als eine Aufzählung von Merkmalen oder Ansichten, der selbst keine ausbuchstabierten Prinzipien zugrunde lag. Als Beispiel für bildhafte Darstellungen dieser Periode kann man vielleicht ägyptische oder besser noch mittelalterliche aspektivische Gemälde anführen. Hier sind auf einer Projektionsfläche Ansichten von Dingen zusammengetragen, die nur von ganz verschiedenen Standpunkten aus gewonnen werden konnten. Welches diese Standpunkte sind, ist aber weder aus dem Bild zu entnehmen, noch gibt es irgendwelche Kunstlehren, die den Betrachter an weisen können, wie er die Standpunkte rekonstruieren kann. Bei den mittelalterlichen Darstellungen scheint es generell unwahrscheinlich, daß dem Standpunkt - und Perspektivenwechsel bzw. der Aneinanderreihung der Ansichten einheitliche Prinzipien zugrundegelegen haben.[3] Die Konsequenz dieser Darstellungsweise ist, daß es uns heute schwerfällt, uns eine Vorstellung von dem Aussehen der dargestellten Phänomene zu machen. Man weiß nicht, ob es sich bei den Ansichten um die Beschreibung ein und desselben Phänomens handelt, oder ob verschiedene Phänomene gemeint sind. In den Manuskripten von Leonardo da Vinci ist das Problem der Koordination der Ansichten an zahlreichen Stellen praktisch gelöst. Er selbst hat Zeit seines Lebens seine Beschreibungsprinzipien nicht systematisch dargestellt und selbst seine wenigen diesbezüglichen Äußerungen blieben unveröffentlicht, so daß sie nur begrenzt zu einem sozialen Gemeingut werden konnten. |
|
[1] Bei diesem Text handelt es sich um einen leicht veränderten Ausschnitt des Exkurses "Die Logik der Modellbildung bei A. Dürer" In: Giesecke, Michael (1988): Die Untersuchung institutioneller Kommunikation, Opladen, 117-128. [2] Zitiert nach der Übersetzung im Katalog der Ausstellung 'Leonardo da Vinci, Anatomische Zeichnungen aus der Königlichen Bibliothek auf Schloß Windsor' der Hamburger Kunsthalle (1979), S. 44. Das in der Abbildung wiedergegebene Blatt findet sich im Bd. 3 der Facsimile-Ausgabe der 'Anatomischen Studien' von Keele/Pedretti mit der hier übernommenen Signatur 139v. [3] Vgl. z.B. Zupnick, 469: "Moreover, we can search in vain through the extant literature of the centuries in which this practice [reversed perspective, bzw. die aspektivische Darstellung] was standard, for any theoretical statement in support of such a procedure." (Zupnick, I. L. (1976): "Imitation or Essence: The Dilemma of Renaissance Art". In: Platon et Aristoteles à la Renaissance. Paris, 469 ff.) Zum Begriff 'aspektivische Darstellung' vgl. Brunner-Traut, E. (1964): "Aspektivische Kunst". In: Antaios, VI: 309-330, zu den Unterschieden der perspektivischen Darstellung z.B. Arnheim, Rudolf (1972): "Inverted Perspective in Art: Display and Expression". In: Leonardo, Vol V, 125-135 |