Einfache
Kommunikationssysteme sind zu jedem Zeitpunkt voll (duplex) vernetzt. Dies
trifft bei sozialen Kommunikationssystemen praktisch nur auf face-to-face
Zweiergespräche zu. Alfred Schütz nennt diese Konstellation deshalb 'ausgezeichnete
Sozialbeziehung' und Jürgen Habermas spricht von der 'idealen Sprechsituation'.
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Sobald
mehr als zwei Personen miteinander reden, bilden sich naturwüchsig Präferenzbeziehungen:
Es redet nicht jeder mit jedem - und schon gar nicht gleich häufig - und
manche Beziehungen bleiben einseitig. Die entstehenden Vernetzungstypen
bei Mehrpersonensystemen sind von Soziologen und Sozialpsychologen zum Ausgangspunkt
für ihre soziometrischen Untersuchungen und Interpretationen gemacht worden.
(Vgl. J. L. Moreno und die Darstellung im folgenden Kapitel 8!) |
Aber selbst
bei den von den Soziologen sogenannten einfachen Interaktionssystemen zeigen
genauere Analysen erhebliche Unterschiede. |
"Als
Interaktion soll dasjenige Sozialsystem bezeichnet sein", schreibt Niklas
Luhmann, "das sich zwangsläufig bildet, wann immer Personen einander begegnen,
d. h. wahrnehmen, daß sie einander wahrnehmen und dadurch genötigt sind,
ihr Handeln in Rücksicht aufeinander zu wählen." (Schematismen der Interaktion;
in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 31, 1979: 237-255,
hier S. 237) Der Ausdruck 'Begegnung' verweist auf die Arbeiten von Ervin
Goffman ('Encounter'), der sich mit dem dynamischen Aspekt der wechselseitigen
Abstimmung von Wahrnehmung und Handlung beschäftigt. (Vgl. z. B.: Interaktion
- Spaß am Spiel. München 1973, zuerst Englisch 1961) Interaktion bezeichnet
in dieser Tradition also mehr als die bloße Verknüpfung von Handlung. Dieses
Problem wird von Soziologen eher als Kooperationsproblem bezeichnet. Es
geht bei der Interaktion daneben auch immer um die wechselseitige Wahrnehmung
und die Nutzung der dabei gewonnenen Informationen für die Planung des eigenen
Verhaltens. Interaktion liegt vor, wenn das Handeln von A orientierungsbestimmend
für B ist, von B also als Reiz für seine Reaktion genommen
wird und umgekehrt. (Vgl. die Um-zu-und die Weil-Motive der Handlungsverkettung
bei A. Schütz). Dies setzt eine 'binäre Schematisierung' von Verhalten und
Erleben voraus: Wenn A handelt nimmt B A's Handeln wahr und umgekehrt. (Vgl.
N. Luhmann: Einfache Sozialssysteme. In: Zeitschrift für Soziologie 1, 1972,
S. 51-65) |
Man handelt
also in der 'echten' Interaktion nicht gleichzeitig sondern nacheinander.
Dies läßt sich in vielen Sportarten, in denen, wie etwa beim Tennis, die
Aktivität regelhaft zwischen A und B abwechselt, deutlich sehen. Das Paradebeispiel
ist allerdings der Sprecherwechsel in Zweiergesprächen: Indem wir eine Bemerkung
zu unserem Gegenüber machen, reizen wir ihn zu einer Reaktion, z. B. auf
unser Beziehungsangebot einzugehen oder aber es abzulehnen. Unsere Erwiderung
zeigt mehr oder weniger deutlich, ob wir mit der Reaktion auf den Reiz einverstanden
sind oder nicht. Und natürlich kann unsere Erwiderung vom Gegenüber auch
wieder als Reiz interpretiert werden usf. |
Diese
Verkettung gibt uns übrigens die Möglichkeit, aus dem Verhalten unseres
Gegenübers etwas über uns selbst zu erfahren. Sein Verhalten ist ja Reaktion
auf das unsrige. Wir nutzen den anderen als einen Spiegel, in dem wir uns
selbst erkennen können. |
Natürlich
ist es auch möglich, daß ein Wechsel weniger zwischen Wahrnehmung und Handlung
als vielmehr zwischen verschiedenen Formen von Handlungen (bzw. Wahrnehmungen)
stattfindet: A schmiedet mit dem kleinen Hammer, B mit dem großen, A mit
dem kleinen usf., immer im Wechsel auf das gleiche Werkstück. Echte Interaktion
setzt bei instrumentellen wie bei sozialen Tätigkeiten voraus, daß die Beteiligten
Unterschiedliches tun, aber sich zugleich immer auch wahrnehmen, um das
Handeln aufeinander abstimmen zu können. Dieses Zusammenspiel von Unterschieden
und Gemeinsamkeiten gelingt nicht immer und nicht allen Personen. Das gemeinsame
Durchsägen eines Baumstamms, das nach altem Brauch von Brautpaaren gefordert
wird, erweist sich vor diesem Hintergrund als kluger Test für die Fähigkeit
des Paares, auf getrennten Wegen ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Wenn
A zieht, muß B nachgeben. Erschwerend kommt für die meisten Menschen in
unserer Zeit bei dieser Interaktionsform noch hinzu, daß die Wahrnehmung
weniger visuell als vielmehr taktil erfolgen muß, um die jeweils günstigsten
Stellen der Turn-Übergabe zu finden. Man spürt in den Händen, wann es Zeit
ist, selbst ziehend in Aktion zu treten und die Bewegungsrichtung damit
umzukehren. |
Vergleichsweise
einfach erscheint demgegenüber die soziale Verknüpfung gleichartiger Tätigkeiten
zu sein: Das gemeinsame, ruckartige Heben/Ziehen schwerer Lasten; gemeinsames
Rudern; im Gleichschritt marschieren usf. Hier muß der gleiche Rhythmus
gefunden werden, was sich durch Taktzeichen: Hauruck-Signale, Singen oder
auch durch Zeichen Dritter, z. B. des Steuermanns beim Rudern erleichtern
läßt. |
Symmetrische
Interaktion, die also nach dem Prinzip 'Mehr vom Selben' verfährt, kann
u. U. zum Durchdrehen von Systemen führen und somit deren Bestand gefährden.
Gregory Bateson spricht von 'Symmetrischen Eskalationen' wenn sich die Interaktion
im Kreise dreht, nach dem Turn-Taking jeweils wieder das gleiche Muster
einsetzt. Verkettungen dieser Art dürfte jeder kennen: |
'Ich ziehe
mich von dir zurück, weil du nicht offen mit mir redest'. Der andere erwidert
dann: 'Ich rede nicht offen mit dir, weil du so weit weg von mir bist'.
Der erste wird vermutlich erwidern: 'Ich bin so weit weg, weil du dich mir
verschließt' usw. Solche symmetrischen Eskalationen bedeuten immer auch
einen Machtkampf - und damit das Gegenteil von einer komplementären Ergänzung
der Rollen. |
Komplexe
Turn-Taking-Strukturen sind dadurch gekennzeichnet, daß sich zugleich (wenn
es sich um Mehrpersonen-Systeme handelt) oder in gewissen zeitlichen Abständen
(bei dyadischen Systemen) sowohl symmetrisch als auch komplementäre Interaktion
ereignet. |
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Modul 04: Symmetrische und komplementäre Kooperation |
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Ein typisches
Beispiel solcher 'konzertierter' Mehrpersonen-Interaktion ist ein Orchester,
in dem viele gleiche Instrumente spielen aber auch ein Wechsel zwischen
den Instrumenten stattfindet. Typischerweise werden solche Konzerte von
einem Dirigenten geleitet, dessen wesentlichen Aufgabe in der Vorgabe der
Turn-Taking-Strukturen/des Rhythmus liegt. |
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Die beschriebene
'echte Interaktion' der wechselseitigen Orientierung aneinander und des
sequenzweisen Rollentausches ist natürlich ein idealtypisches Modell. Es
lebt von der Annahme, das die Interaktionsbeteiligten sich jeweils nur an
dem anderen bzw. an dessen Handeln und/oder Erleben orientieren. Aber selbstverständlich
orientieren sie sich auch an ihren eigenen (psychischen) Plänen und an den
Normen derjenigen größeren Sozialsysteme, in die sie eingebettet sind: Institutionen,
Gruppen, Gesellschaftssysteme. |
Obwohl
bedeutende Soziologen wie etwa etwa Alfred Schütz und Talcott Parsons die
dyadische face-to-face Interaktion als Urzelle und Prototyp sozialer Interaktion
betrachtet haben, wiesen sie auf diesen Sachverhalt immer wieder hin: 'A
dyade always presupposes a culture shared in a wider system', schrieb Parsons
in seinem Artikel 'Social Interaction' (in: International Enzyclopedia of
Social Sciences, hrsg. v. D. Shils, Band 7, New York 1968, S. 429 - 441,
hier S. 437) |
Mit jedem
einfachen Sozialsystem interferieren die kulturellen Normen, andererseits
braucht jede Institution und auch jedes Gesellschaftssystem einfache Sozialsysteme
als relevante Umwelt. Moderner ausgedrückt: Soziale Phänomene emergieren
auf unterschiedlichen Ebenen und lassen sich deshalb auch zugleich in verschiedene
Systemklassen einordnen. |
Die Interferenz
zwischen psychischen und einfachen Sozialsystemen haben E. E. Jones und
H. B. Gerard in einer später viel zitierten Untersuchung zur Unterscheidung
von vier Interaktionsniveaus angeregt. (Foundations of Social Psychology.
New York 1967. Vgl. auch Ursula Piontkowski: Psychologie der Interaktion.
München 1976, S. 10ff) |
Im
Gegensatz zu den soziologischen Interaktionsmodellen sieht deren idealtypisches
Modell dyadischer Interaktion vor, daß sich A und B sowohl aneinander als
auch an ihren je eigenen (psychischen) Programmen orientieren. |
(Auf
unten stehende Abbildung bezogen Beschreibung von links nach rechts) Ist
dieser Fall gegeben - was wohl voraussetzt, daß soziale und individuelle
Programme übereinfallen - sprechen sie von 'wechselseitiger Kontingenz'.
Die anderen Typen entstehen, wenn von dieser Vollform in die eine oder andere
Richtung abgewichen wird. Bei der sogenannten 'Pseudokontingenz'
sind die Reaktionen der Interaktionspartner jeweils ausschließlich durch
die eigenen psychischen Programme geprägt. Man kann sich das so vorstellen,
daß beide Beteiligten von vornherein ein bestimmtes Ziel bei der Interaktion
im Auge haben und versuchen dieses, ohne Rücksicht auf den anderen durchzusetzen. |
Von 'asymmetrischer
Kontingenz' wird gesprochen, wenn jeweils ein Interaktionspartner sich
an seinem Programm orientiert, während der zweite interaktiv reagiert. 'Reaktive
Kontingenz' soll vorliegen, wenn beide Interaktionspartner sich in ihrem
Verhalten jeweils von den Reizen des anderen treiben lassen. Als Beispiel
werden hier Paniksituationen genannt, in denen die Orientierung am Fluchtverhalten
anderer zum individuellen Kontrollverlust führt. Die nachstehende Abb. stellt
die 4 Typen schematisch dar. |
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'Vier Interaktionsniveaus' |
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